key: cord-0037739-7c301rkk authors: Mayer, J. G. title: Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin date: 2008 journal: Querschnittsbereiche DOI: 10.1007/978-3-540-46358-0_2 sha: 824188f0ca7a8dac95a701618bbc93975a179580 doc_id: 37739 cord_uid: 7c301rkk Von Medizin kann erst dann die Rede sein, wenn zur heilkundlichen Praxis eine Theorie hinzukommt, die sich an der jeweils aktuellen Naturwissenschaft ausrichtet. Von Medizin kann erst dann die Rede sein, wenn zur heilkundlichen Praxis eine Theorie hinzukommt, die sich an der jeweils aktuellen Naturwissenschaft ausrichtet. Schon in der Antike gehörten Geschichte, Theorie und Ethik zur Medizin. Die besondere Stellung der Ärzte in der Gesellschaft brachte frühzeitig eine spezifische Ethik hervor, und die hellenistische Welt kannte bereits mehrbändige Werke zur Medizingeschichte (die leider verloren gingen). Das Wissen um Ursprung und Geschichte der Medizin hilft auch heute beim Verständnis des Gesundheitswesens und seiner Probleme. Mit theoretischen und ethischen Fragestellungen sind Ärztin und Arzt nahezu täglich konfrontiert. Geschichte der Medizin Bevor sich eine wissenschaftlich begründete Heilkunde (Medizin) in der griechischen und chinesischen Kultur zwischen dem 6. und 3. Jh. v. Chr. entwickelte, wurden Krankheiten nach magischen Konzepten behandelt. Magisches findet sich auch heute noch in der Medizin (z. B. Plazebo-Effekt), während die magische Heilkunde immer auch empirische Elemente besaß. Noch die Medizin der alten Hochkulturen von Ägypten, Babylon sowie die altindische Medizin zeigen magisch-dämonische und empirisch-rationale Elemente. Entsprechend gab es auch Priesterheiler und Zauberheiler sowie praktische Heiler (Ärzte). Recht gut belegt ist die ägyptische Medizin, nicht nur durch archäologische Sachfunde und Mumien, sondern auch durch Textzeugnisse (Papyri, Wandinschriften). Die wichtigste Schrift ist der sog. Papyrus Ebers (um 1550 v. Chr.), benannt nach dem Käufer Georg Ebers, der ihn 1872 erwarb. Auf einer Länge von 20 m werden zahlreiche kürzere Texte überliefert, die sich in drei Gruppen gliedern lassen: 4 Erkrankungen des Herzens 4 Theoretische Traktate über das Herz und die Gefäße 4 Rezeptsammlungen zu verschiedenen Krankheiten Ähnlich wichtig ist der Papyrus Smith, der die Chirurgie behandelt. In der Physiologie tauchten bereits die vier Elemente Luft, Feuer, Erde und Wasser auf, die in der griechischen und mittelalterlichen Medizin Europas eine zentrale Rolle spielten. Auch nach der hippokratischen Medizin war Krankheit Disharmonie, die harmonische Mischung der Körpersäfte war gestört (Dyskrasie). Den Ausgleich (Synkrasie) sollte eine »Kochung« oder pepsis (Dauung) erbringen. > Wegen der großen Bedeutung der Körpersäfte in diesem System spricht man von der Humoralpathologie (humor = Saft). Zentral ist die Diätetik: Für ein gesundes Leben genügte es nicht, die »res naturales« (natürlichen Dinge) zu beachten: Elemente, Säfte, Konstitution, sondern auch die »sex res non naturales«: Licht und Luft, Speise und Trank, Bewegung und Ruhe, Schlafen und Wachen, Ausscheidungen, Emotionen. Neben der Schule von Kos war die Schule von Alexandrien die bedeutendste der Antike. Hier wirkten Herophilos (ca. 300 v. Chr.) und Erasistratos (ca. 250 v. Chr.). Herophilos von Chalcedon gilt als Vater der Anatomie. Er soll seine ausgezeichneten anatomischen Kenntnisse zum Teil durch Vivisektion von Schwerverbrechern erworben haben (so Celsus). Er beschrieb als erster das Gehirn, die vier Häute des Augapfels, die Genitalien von Mann und Frau und die Nervenbahnen, benannte den Zwölffingerdarm (Dodekadaktyklon) und machte sich um die Pulsmessung verdient. Auch Erasistratos nutzte die Sektion von Tieren und menschlichen Leichen. Er wurde der Vater der Physiologie. Seine Studien galten vor allem dem Weg der Verdauung, wobei er die Vorstellung ablehnte, die Nahrung werde im Magen gekocht. Er betrachtete das Herz als zentrales Pumpwerk, das Blut und Pneuma in die Organe befördert. Inhaltlich versuchten die Mönche am Wissen der antiken Ärzte anzuknüpfen, was nur in Ansätzen gelang, da die praktische Erfahrung fehlte und Literatur nur im geringen Umfang zur Verfügung stand. Deshalb griff man auch auf Praktiken der Volksmedizin zurück. Im Zentrum der Behandlung standen Phytotherapie, Badekuren und Aderlass. Viele Klöster errichteten Spitäler, vor allem entlang der großen Pilgerstraßen nach Santiago de Compostela und nach Rom. Wichtigstes Werk der Klostermedizin war der »Macer floridus« aus der 2. Hälfte des 11. Jahrhunderts, eines der sehr verbreiteten Kräuterbücher im Mittelalter. Die medizinischen Schriften der Hildegard von Bingen (1098-1179) waren dagegen nur am Mittelrhein bekannt. Islamisch-arabische Medizin Während die Klostermedizin in Europa mühsam versuchte, den Anschluss an die antike Medizin zu finden, hatten die Gelehrten der neu entstandenen islamischen Welt, die von Westindien bis Spanien reichte, direkten Zugriff auf die Werke der griechischen Medizin, die, teilweise über das Syrische, ins Arabische übersetzt wurden. Auf der Basis der Werke Galens und der »Materia medica« des Dioskurides u. a. schufen Razes (gest. 932), Ali ibn al-Abbas (Haly Abbas, gest. 994), Isaak Judaeus (gest. 950) und der Perser Ali Ibn Sina (Avicenna, gest. 1037) ihre Schriften. Der »Canon medicinae« Avicennas war die erste systematische Darstellung der Medizin überhaupt und wurde deshalb in seiner lateinischen Übertragung von 1177 durch Gerhard von Cremona in Toledo zum wichtigsten medizinischen Lehrbuch in Europa. Durch die christliche Rückeroberung Spaniens und den Mongolensturm (1258) erlebte diese Zivili-sation, in der auch noch viele Christen und Juden wirkten, einen Niedergang. Als der Philosoph und Arzt Averroes (gest. 1198) die aristotelische Philosophie über die Lehren des Islam stellte, kam es zu einer starken Gegenbewegung seitens der islamischen Geistlichkeit. Als der Bischof von Münster, Clemens August Graf von Galen, in Hirtenbriefen und Predigten massiv gegen das Töten in den Heilanstalten auftrat, wurde die T4-Aktion eingeschränkt. Dafür wurde nun das systematische Töten auf andere Gruppierungen ausgeweitet: auf kränkliche KZ-Insassen und Kriegsgefangene, auf »Zigeuner«, wie Sinti und Roma genannt wurden, sowie »Streuner« (Obdachlose), bis schließlich auf der Wannseekonferenz am 20. Januar 1942 die »Endlösung der Judenfrage« ausgerufen wurde. Die Massentötung im Konzentrationslager Auschwitz mit Zyklon B war durch die CO-Vergasung der T4-Aktion vorbereitet worden. An Häftlingen wurden ohne deren Zustimmung Versuche durchgeführt, die den Tod der Versuchpersonen teilweise sogar vorsahen. Mit etwa 3500 Menschen sollen nach Berechnungen des Gerichts im Nürnberger Ärzteprozess solche Versuche durchgeführt worden sein, von ihnen starben mindestens 800. Neben Versuchen zu einzelnen Erkrankungen (Tuberkulose, Multiple Sklerose) wurden auch Medikamente und Impfstoffe an den Häftlingen erprobt. Der Schwerpunkt der Versuche diente aber militärischen, rassenhygienischen und rassenpolitischen Interessen. Zu den militärischen bzw. wehrwissenschaftlichen Experimenten gehörten z. B. die Experimente mit Giftgasen wie Lost (Senfgas), Phosgen und Tabun. Im Konzentrationslager Buchenwald gab es eine Forschungsstation für biologische Kriegsführung. Hier wurden u. a. Versuche mit Pesterregern unternommen. Die Luftwaffe ließ im Konzentrationslager Dachau Unterdruck-und Unterkühlungsexperimente durchführen. Dabei ging es darum, herauszufinden, welche Höhe der menschliche Organismus mit und ohne Sauerstoffgerät ertragen kann. Die Rassenideologie sollte mit Experimenten untermauert werden, wie sie Josef Mengele in Auschwitz an von ihm ausgewählten Juden vornahm. Auch Kriegsgefangene asiatischer oder afrikanischer Abstammung wurden für rassenanthroposophische Untersuchungen ausgesucht. Im Zuge der Aktion »Vernichtung lebensunwerten Lebens« wurden behinderte Kinder zu Versuchen herangezogen, bevor man sie tötete. Rassenpolitische Beim therapeutischen Klonen dabei wird der Kern einer Zelle des Patienten in eine entkernte menschliche Eizelle transferiert. So entsteht gleichsam eine befruchtete Eizelle, die sich wie ein Embryo weiter entwickeln kann. Die dabei entstehenden Stammzellen sollen dem Spender bei einer Therapie implantiert werden, etwa um einen Organersatz zu ermöglichen. Durch diese Methode wird die Gefahr der Abstoßungsreaktion bei einer Therapie mit embryonalen Stammzellen umgangen. Allerdings werden hier entwicklungsfähige Eizellen, also Embryonen hergestellt, die ein schützenswertes Leben darstellen. In England ist das therapeutische Klonen inzwischen zugelassen. Genetik, genetische Diagnostik Die genetische Diagnostik weckt Ängste und Hoffnungen: Einerseits die Angst vor hilfloser Determination (Diagnose: Chorea Huntington), vor Diskriminierung und Stigmatisierung sowie Ängste vor Missbrauch durch Versicherungen, Arbeitgeber und Staat, auf der anderen Seite die bislang kaum erfüllte Hoffnung auf neue Therapien genetisch determinierter Krankheiten. In der Regel folgen der genetischen Diagnostik keine erfolgsversprechenden therapeutischen Maßnahmen, sondern allenfalls Vorsorgemaßnahmen, etwa Schwangerschaftsabbruch oder Brustamputation bei BRCA (»breast cancer genes«). Eine genetische Diagnostik muss von einer genetischen Beratung begleitet werden, wie dies von der Deutschen Gesellschaft für Humangenetik gefordert wird, denn häufig sind den Ratsuchenden die psychischen und sozialen Folgen eines positiven Befundes nicht bewusst. Es können sich tief greifende Konsequenzen für Familienplanung oder Familienangehörige ergeben. Das Wissen um eine genetische Disposition kann außerdem zunehmend Nachteile bei Versicherungsabschlüssen und Arbeitsplatzsuche mit sich bringen. Transplantationsmedizin Die Transplantationsmedizin wird zu den großen Erfolgen der Medizin in der zweiten Hälfte des letzten Jh. gezählt. Die Lebendspende kann sich nur auf wenige Verfahren beschränken: auf Knochenmarksspende, dem Spenden einer Niere oder der Teilspende von Leber oder Pankreas. Sie sind mit erheblichen Risiken für die Spender verbunden. Die Lebendspende von nicht regenerierbarem Gewebe und Organen ist in Deutschland nur unter Verwandten oder sehr nahe stehenden Personen erlaubt. Die Organspende ist also immer auf eine konkrete Person gerichtet (gerichtete Lebendspende). Ziel ist es vor allem, eine Kommerzialisierung der Organspende zu verhindern, die in einigen asiatischen Ländern zu beobachten ist. In manchen Ländern (z. B. USA) ist auch die ungerichtete Lebendspende über ein 2 Transplantationszentrum möglich. Besonders wichtig ist hier eine nicht-direktive Beratung der Beteiligten. Die postmortale Organspende ist in Deutschland seit 1968 bei Hirntoten erlaubt. Die postmortale Organspende ist erst durch das Hirntodkonzept möglich, wonach der Hirntod mit dem Tod des Menschen gleichgesetzt wird, obwohl das Herz noch schlägt, der Körper noch durchblutet wird. Dies wurde im Transplantationsgesetz von 1997 gesetzlich geregelt. in einigen asiatischen Ländern geschah. Auf der anderen Seite wurde auf solche Maßnahmen bei AIDS ver-zichtet, um eine Stigmatisierung der betroffenen Personen zu verhindern. Philosophische Teildisziplin: Lehre von der Moral, die das Zusammenleben der Menschen regelt. Ärztliche Ethik seit der Antike (Eid des Hippokrates) schützt das Patienten-Arzt-Verhältnis Unterlassen oder Beenden lebensverlängernder Maßnahmen. Rechtslage: zulässig, wenn dies nach dem Willen des Patienten (durch Aussage oder Patiententestament) geschieht Der Tod des Patienten wird als Folge einer Behandlung (z. B. starke Schmerzmittel) in Kauf genommen. Rechtslage: laut Bundesärztekammer zulässig Verabreichung eines Mittels allein zum Zweck der Tötung eines Patienten (z. B. Überdosis von Kaliumchlorid). Rechtslage: verboten nach § 216 StGB Der Arzt verschreibt oder übergibt ein potenziell tödliches Medikament in Kenntnis der Selbsttötungsabsicht des Patienten. Rechtslage: straffrei, wird aber von der Bundesärztekammer abgelehnt Forschung am Menschen Die Notwendigkeit der Forschung am Menschen ist grundlegender Bestandteil der modernen Medizin. Negative Erfahrungen in der jüngsten Geschichte, nicht nur in der NS-Zeit, und die Gefahr des Missbrauchs angesichts ehrgeiziger wissenschaftlicher und wirtschaftlicher Interessen haben dazu geführt, dass der Patient in der Forschung unter besonderen Schutz gestellt wurde. Der Arzt ist hier nicht nur zu einer strengen Nutzen-Risiko-Abwägung und zu einer umfassenden Aufklärung der Probanden aufgefordert, die Forschungsvorhaben müssen auch von einer Ethikkommission beurteilt werden.Entsprechende Ethikkommissionen gibt es an allen Universitäten und Landesärztekammern. Sie werden nach Landesrecht gebildet. Sie sollen sinnlose und überflüssige Forschungsvorhaben verhindern und darauf achten, dass alle ethischen und rechtlichen Richtlinien beachtet und eine ausreichende Aufklärung der Versuchsteilnehmer durchgeführt werden.Seit In Deutschland wird das öffentliche Gesundheitswesen von den gesetzlichen Krankenkassen finanziert, es ist damit kein sich selbstregelndes System des freien Marktes, sondern es werden politische Vorgaben unter bestimmten ökonomischen Rahmenbedingungen umgesetzt. Das System basiert auf den Grundprinzipien der Solidarität und der sozialen Gerechtigkeit. Im konkreten Fall kann eine Entscheidung sehr schwierig sein: verletzt ein Raucher nicht bereits das Prinzip der Solidarität? Können wirklich jedem Patienten die gesamten Möglichkeiten des medizinischen Fortschritts zuteil werden?Es ist kaum noch umstritten, dass die allgemeinzugänglichen Leistungen des Gesundheitswesens begrenzt werden müssen. Grundsätzlich gilt, dass der Patient seine Autonomie im Gesundheitswesen behalten soll. Das Recht auf Autonomie kann jedoch in bestimmten Fällen stark eingeschränkt werden. Etwa um die Ausbreitung von Epidemien einzudämmen. So kann bei erhöhtem Auftreten der Masern eine Impfung angeordnet werden, obwohl ansonsten die Impfpflicht aufgehoben wurde. Ja es kann sogar zur Anordnung auf Verlegung in ein Quarantänelager kommen, wie dies 2003 beim Auftreten von SARS