key: cord-0036251-g718x394 authors: Linggi, Dominik title: Die Rede von der Vertrauenskrise in China date: 2011-07-21 journal: Vertrauen in China DOI: 10.1007/978-3-531-92916-3_11 sha: cf746c38e270bbf36b5bc133b7e7d0ee17ee6618 doc_id: 36251 cord_uid: g718x394 Im ersten Teil dieser Arbeit wurden die Ergebnisse der ländervergleichenden Umfrageforschung zu Vertrauen thematisiert, wobei insbesondere das hohe gemessene Vertrauensniveau in der VR China im Zentrum des Interesses stand. In Anbetracht dieser Befunde mag es nun zunächst erstaunen, dass chinesische Soziologinnen und Soziologen im Gegensatz dazu von einer „Vertrauenskrise“ (xinren weiji) im gegenwärtigen China sprechen, obwohl die empirischen Befunde eigentlich genau auf das Gegenteil hinweisen. Andererseits ist es angesichts der politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Umwälzungen Chinas im 20. Jahrhundert mit dem Zusammenbruch der letzten Kaiserdynastie 1911, der brutalen Besetzung von Teilen Chinas durch Japan im Zweiten Weltkrieg, dem Bürgerkrieg zwischen Kommunisten und Nationalisten, sowie den diversen Kampagnen und Bewegungen seit der Gründung der Volksrepublik 1949 und dem Übergang von einer Planwirtschaft in eine dezentralisierte, markt- und exportorientierte Wirtschaft neoliberalen Zuschnitts mit gleichzeitiger autokratischer Ein-Partei-Herrschaft seit Beginn der Politik von Reform und Öffnung (gaige kaifang) im Jahr 1978 nicht überraschend, dass das Vertrauen in der chinesischen Gesellschaft – wie in anderen Gesellschaften, die tiefgreifenden Transformationsprozessen unterworfen sind – in eine Krise gerät. Im Folgenden sollen nun die Ursachen für die Entstehung der Vertrauenskrise in China und ihre Manifestationen in der Gesellschaft näher beschrieben werden, ebenso wie die von chinesischer Seite her vorgeschlagenen Maßnahmen zur Wiederherstellung des Vertrauens. schaftsbereiche (shehui zhuanxing qi oder shehui biange) und die daraus resultierende Ungewissheit bezüglich der geltenden moralischen und sozialen Standards gesehen. Was jedoch den Zeitraum oder die Art der Transformation angeht, so gibt es zum Teil abweiche nde Auffassungen. Während die einen von einem Wandel von einer Planwirtschaft hin zu einer Marktwirtschaft sprechen, was seit Beginn der Politik von Reform und Öffnung ab 1978 effektiv der Fall ist, erwähnen andere die Transformation von einer traditionellen hin zu einer modernen Gesellschaft, wobei einige unter diesen Autorinnen und Autoren die ersten dreißig Jahre seit der Gründung der Vol ksrepublik China von 1949 China von bis ca. 1978 Als ersten Aspekt in Bezu g auf die Ursache der Vertrauenskrise nennt An Rui die Tatsac he, dass die Menschen zu Beginn eines solchen sozialen Wandlungsprozesses wie dem Übergang von einer Planwirtschaft in eine moderne marktorientierte Gesellschaft gerne impulsiv alle Traditionen einschließlich ihres Wertesystems vollständig über Bord werfen. 324 Dadurch wird unter anderem auch die Eigenschaft der Vertrauensbeziehung als eine Tugend, die sich in China über mehrere tausend Jahre hinweg entwickelt und die die Aufrichtigkeit und moralische Integrität betont hat, erschüttert und zerstört. Traditionen, so An Rui, geben den Menschen eine Lebensgrundlage, ein Gefühl von Sicherheit und Vertrauen sowie seelischen Trost. Ohne Traditionen fehlt den Menschen hingegen Halt und ei n moralisches Orientierungsfeld, so dass sie ohne Wurzeln sind. 325 Dies ist laut Shen Zhili insbesondere der Fall, wenn die gemeinsamen traditionellen Werte zerstört, entsprechende neue Werte jedoch noch nicht etabliert sind , wie dies in China zurzeit der Fall ist. Dadurch gerät das Vertrauen, das die sozialen Beziehungen zusammenhält und zu gesellschaftlicher Harmonie führt, in eine Krise. 326 Die traditionellen Werte und das traditionelle Vertrauenssystem sind Wei Guoli, An Rui und Yang Taikang zufolge bereits durch politische Ka mpagnen und besonders durch die Ku lturrevolution während der ersten dreißig Jahre der Herrschaft der kommunistischen Partei in Chi na zerstört oder zumindest stark geschwächt worden. Anschließend sind sie durch die rapide wirtschaftliche Entwicklung von einer Planwirtschaft hin zu einer marktorientierten Wirtschaft nochmals vor zusätzlichen Herausforderungen gestellt worden, insbesonde re durch die Schließun g unrentabler Staatsbetriebe und der damit verbundenen 323 Zu letzteren gehören beispielsweise Wei 2005: 115; An 2004 : 8, oder Yang 2003 Dieser Prozess begann allerdings -wie unter Fussnote 327 ausgeführt -nicht erst mit dem Reform-und Öffnungsprozess, sondern setzte schon im 19. Jahrhundert ein. 325 An 2004: 8. 326 Shen 2004: 55. Reform des Sozialsystems sowie der zunehmenden sozialen Ungleichheit innerhalb der Gesellschaft. 327 Nebst dem Verlust des traditionellen Wertesystems ist auch der Wandel der Beziehungsformen ein T hema. Die tradit ionelle chinesische Gesellschaft war gemäß Xie Ping eine Gesellschaft von Freunden und Bekannten (shuren shehui). Die Gemeinschaft war dabei die Grundeinheit gewesen und Vertrauensprobleme spielten sich vor allem innerhalb einer Gemeinschaft oder zwischen Gemeinschaften ab. Außenstehenden hingegen wurde mit Misstrauen begegnet. Das Individuum stand im Zentrum, und je weiter weg von einer Blutsbeziehung oder je größer die geographische Distanz zwischen zwei Personen war, desto weniger Vertrauen herrschte vor. 328 thisch-moralische Kontrollmechanismus übt dabei immer weniger hemmenden Einfluss auf die Leute a us, so dass opportunistische Verha ltensweisen immer häufiger werden. Das größte Problem besteht gemäß Cao und Zhang nun darin, wie man die Funktion der starken zwischenmenschlichen Vertrauensbeziehungen der traditionellen Gesellschaft entsprechend auf die moderne Gesellschaft übertragen kann. 337 Wie manifestiert sich nun di e Vertrauenskrise konkret in der chinesischen Gesellschaft? China befindet sich in einem Transformationsprozess von einem System personaler Herrschaft zu ei nem rechtsstaatlichen System. Ein wichtiger Faktor ist in diesem Zusammenhang die Vertrauenswürdigkeit der Regierung, denn deren Aufrichtigkeit und Glaubwürdigkeit ist für Zou die Grundlage für das Vertrauen in der Gesellschaft, da der Regierung unter anderem eine Führungs-, Überwachungs-und Verwaltungsfunktion der Vertrauenswürdigkeit der gesamten Gesellschaft zukommt. Wenn die Glaubwürdigkeit und die Verlässlichkeit der Regierung verloren gehen, dann ist die Vertraue nswürdigkeit der gesamten Gesellschaft in Gefahr. Nicht zuletzt deshalb ist die Glaubwürdigkeit der Zentralregierung wie auch der Lokalregierung en eine zentrale Forderung der WTO, deren Mitglied China ja ebenfalls ist. 338 In Ma Junfeng sieht eine weitere Konseque nz darin, dass beispielsweise Geschäftsleute niemandem mehr außerhalb der eige nen Familie vertraue n und die Firmenführung innerhalb der Familie behalten. Dieses Misstrauen macht es aber auch schwierig, einen Bankkredit zu erhalten, so dass sich keine großen multinationalen Unternehmen entwickeln können. 343 Ähnlich argumentieren auch Wu und Zhao, die bemerken, dass die Leute anderen Menschen aufgrund von vergangenen schlechten Erfahrungen nicht mehr vertrauen. Als Folge dessen wird auch die Vertrauenswürdigkeit des Ge schäftspartners in Bezug auf Preis und Qualität angezweifelt. Weiter wird da s Vertrauen der Bürger in die Regierung und ihre Institutionen durch die zahlreichen Fälle von Bea mten, die eine rücksichtslose Gier an de n Tag legen, die Schmiergelder annehmen und das Recht verdrehen, beeinträchtigt. Auch der Wissenschaft und der Technologie, z.B. dem Online-Shopping, wird aus diesen Gründen nur beschränkt vertraut. Die Vertrauenskrise hält die Menschen davon ab, m iteinander zu in teragieren und sich zu sozialen Gruppen zusammenzuschließen. Sie hat aber a uch einen direkten negativen Einfluss auf die Umsetzung von Gesetzen und politischen Maßnahmen und ist dadurch auch ein Hindernis für eine effiziente wirtschaftliche Entwicklung. 344 Der Soziologe Sun Lip ing von der Qinghua Universität in Beijing schrieb in diesem Zusammenhang in seinem Blog vom 28. Februar 2009, dass die größte Gefahr für China nicht sozialer Aufruhr ist, sondern sozialer Zerfall. Dies führt er folgendermaßen aus: "The phenomenon of social decay has become increasingly obvious in recent years. A major symptom of it is un controllable power. (...) When I say that the power of the government is out of contro l, I mean th at it has become a fo rce that is not r estrained either externally or internally. (...) There is no check or balance. It means that the power of the national government has been fragmented. Officials do not fulfill their responsibilities. They sacrifice the interest of the government, not to mention the whole society, for their own interest of preserving their position or getting promoted. Corruption has b ecome out of con trol and is an u ntreatable problem against this backdrop. This decay has spread to all aspects of social life. ciety has lost its morals; there is no bottom line of social ethics; strong interest groups are unscrupulous, which cause serious erosion of people's sense of fairn ess and justice. (...) Falsification of statistical data signifies an institutional distortion of reality. As a saying goes, "officials in the villages cheat those in the townships; township officials cheat those in the counties; and false information goes all the way to the State Council." 345 This is a reality that is perhaps more truthful than official statistics. (...) The fundamental cause of social decay is the marriage between political power and capitalism. (...) We must see the union of wealth and power is the key problem. (...) When corrup tion becomes a way of life, when it becomes something beyond reproach, and when it becomes something ev eryone denounces and at the same time desires, the whole society has entered a state of maldevelopment. (...) The real value of reform is to turn C hina from a def ormed and disto rted society into a normal one, and to make it join the mainstream civilization of human societies. samt ist eine Tendenz zu einer Konzentration auf der Dimension "ziemlich viel" zu beobachten. Von einer Vertrauenskrise ist hier also nicht viel auszumachen. Diese Befunde, zusammen mit Medienberichten und den Ergebnissen aus Befragungen zur Vertrauenswürdigkeit von Personen-und Berufsgruppen, stützen die in diesem Kapitel zitierten Aussagen, die von ei ner Vertrauenskrise im gegenwärtigen China sprechen. Die hohen Vertraue nswerte in die politischen Institutionen, insbesondere i n die Zentralregierung, weisen einerseits auf das Vertrauensgefälle zwischen Zentralregierung und den Regierungen auf lokaler Ebene hin. Auf der anderen Seite müssen diese Befunde aufgrund des allgemeinen und unspezifischen Charakters der Fragen mit der nötigen Vorsicht interpretiert werden, denn sie bringen wahrscheinlich mehr ein eher diffuses Vertrauen in einen Zentralstaat als abs traktes Ordnungsprinzip zum Ausdruck, von dem erwartet wird, dass er für soziale Stabilität, Wohlfahrt und Ordnung sorgt. Solange er dies aufgrund des hohen Wirtschaftswachstums zu gewährleisten mag, wird ihm auch zugetraut, gegenwärtige gesellschaftliche Probleme, wie etwa die Vertrauenskrise, zu meistern. Was jedoch passieren wird, wenn einmal soziale Miss-367 Eine Korrelationsberechnung zwischen der Indi katorfrage des auf alle fünf W ellen aggregierten Samples des World Values Survey und dem Korruptionsindex von Transparency International für das Jahr 2005 ergab einen Wert von -0.603, der auf dem 1%-Niveau hoch signifikant war. 368 stände nicht mehr durch wirtschaftliches Wachstum ausgeglichen oder zumindest gemindert werden können, ist eine ganz andere Frage. Die Rede von einer Vertra uenskrise in der gegenwärtigen chinesischen Soziologie ist im Hinblick auf die Befunde der westliche n ländervergleichenden Umfrageforschung zu Vertrauen in Chi na ein deutlicher Hinweis dafür, dass mit dem hohen gemessenen Niveau an generalisiertem Vertrauen etwas nicht stimmen kann. Denn wenn eine Gesellschaft tiefgreifenden Transformations-und Wandlungsprozessen unterworfen ist, die auch die ve rschiedenen Institutionen, Organisationen und das Wertesystem erfassen und diese aufgrund solcher Vorgänge das in sie gesetzte Vertrauen nicht mehr erfüllen (können), führt dies vielfach zu einem Rückzug und Fo kus der Gesellschaftsmitglieder auf vertraute Binnengruppen, wie beispielsweise die Familie oder enge Freunde. 371 Wenn nun vor diesem Hintergrund in e inem Land durch die Umfrageforschung ein vergleichsweise hohes generalisiertes Vertrauensniveau gemessen wird, liegt der Verdacht nahe, dass die Befragten den Ausdruck "most people" in der betreffenden Frage nicht auf die Menschen generell, sondern lediglich auf die Personen innerhalb ihres Beziehungsnetzwerkes oder ihrer Binnengruppe, bezogen haben. Die bisherigen Ausführungen dieses T eils der Arbeit und insbesondere diejenigen des Kapitels über Form und Eigenschaften des Vertrauens in China stützen eine solche Interpretation. Der OECD Economic Survey zu China im Jahr 2010 hält ebenfalls fest, dass die soziale Ungleichheit in China im internationalen Vergleich zie mlich hoch sei, in den letzten Jahren aufgrund von politischen Gegen maßnahmen aber insbesondere in ländlichen Gebieten leicht zurückgegangen sei. Außerdem weist die Studie auf Schwächen des Gini-Ind ex im Zusammenhang mit der Messung von Ungleichheit in China hin: O-ECD Economic Surveys