key: cord-0035215-vvwd7om1 authors: Schmuhl, Hans-Walter title: Die Gesellschaft Deutscher Neurologen und Psychiater im Zweiten Weltkrieg date: 2016 journal: Die Gesellschaft Deutscher Neurologen und Psychiater im Nationalsozialismus DOI: 10.1007/978-3-662-48744-0_4 sha: 73b2488f311bb3e1dbf96fdef4272c2c3b98a9ec doc_id: 35215 cord_uid: vvwd7om1 Mit Beginn des Zweiten Weltkriegs kam es – als Folge der Einberufung wichtiger Protagonisten – zu einer deutlichen Beeinträchtigung der Organisationsstrukturen der Gesellschaft Deutscher Neurologen und Psychiater. Im Verlauf des Krieges lösten sich die formalen Strukturen weiter auf, während das informelle Netzwerk, das die Fachgesellschaft zusammenhielt, weitgehend intakt blieb und es an der Schnittstelle von Wissenschaft und Politik zu neuen Konstellationen und Kooperationen kam. D 1. Die Gesellschaft Deutscher Neurologen und Psychiater und die »Aktion T4« Mit Beginn des Zweiten Weltkriegs kam es -als Folge der Einberufung wichtiger Protagonisten -zu einer deutlichen Beeinträchtigung der Organisationsstrukturen der Gesellschaft Deutscher Neurologen und Psychiater. Im Verlauf des Krieges lösten sich die formalen Strukturen weiter auf, während das informelle Netzwerk, das die Fachgesellschaft zusammenhielt, weitgehend intakt blieb und es an der Schnittstelle von Wissenschaft und Politik zu neuen Konstellationen und Kooperationen kam. Das folgende Kapitel untersucht zunächst die Verflechtungen der Gesellschaft Deutscher Neurologen und Psychiater mit dem Machtapparat, der den Massenmord an Menschen mit geistigen Behinderungen und psychischen Erkrankungen ins Werk setzte. Zentrale Figur war in diesem Zusammenhang Paul Nitsche, dessen Vorrücken in eine Schlüsselposition im Grenzbereich von Politik, psychiatrischer Praxis und Wissenschaft in den Jahren 1937/38 in einem Exkurs nachvollzogen wird. Die Verbindungen zwischen der Gesellschaft Deutscher Neurologen und Psychiater, der Zentrale der »Aktion T4«, ihrem Gutachterstab, den beiden von ihr betriebenen Forschungsabteilungen und der Deutschen Forschungsanstalt für Psychiatrie sollen im Detail nachvollzogen werden. Dabei werden mehrere Psy chiater aus dem Netzwerk um Ernst Rüdin vorgestellt, die in verschiedenen Funktionen am »Euthanasie«-Programm mitwirkten oder sich auf je eigene Art und Weise gegen dieses Programm stellten, dazu auch mehrere Ärzte aus Heil-und Pflegeanstalten, die die informellen Netzwerke zu nutzen versuchten, um gegen die »Euthanasie« zu intervenieren. Auf diese Weise soll auch das Spe ktrum möglicher Verhaltensweisen angesichts des Massenmordes an Menschen mit geistigen Behinderungen und psychischen Erkrankungen ausgeleuchtet werden. Im Mittelpunkt des Kapitels steht das Programm der Sechsten Jahresversammlung der Gesellschaft Deutscher Neurologen und Psychiater, die 1941 stattfinden sollte, wegen des Kriegsverlaufs jedoch kurzfristig abgesagt werden musste und trotz aller Bemühungen bis zum Kriegsende nicht mehr zustande kam. Anhand dieses Programms lassen sich die Themen herausarbeiten, die die Fachgesellschaft in der Kriegszeit beschäftigten: das Verhältnis zwischen Psychiatrie und Psychotherapie, die Bildung einer eigenen kinderpsychiatrischen Fachgesellschaft, die Fortschritte der Neurochirurgie im Hinblick auf die Behandlung der Hirn-, Rückenmark-und Nervenverletzungen und schließlich der Einsatz innovativer Therapieformen bei der Behandlung der Psychosen -vor diesem Hintergrund sollten die versammelten Psychiater und Neurologen auf das »Euthanasie«-Programm eingestimmt werden. Schließlich werden mehrere wichtige Denkschriften und Berichte vorgestellt, die der Kreis um Ernst Rüdin in den letzten Kriegsjahren im Namen der Gesellschaft Deutscher Neurologen und Psychiater an politische Entscheidungsträger richtete, um die psychiatrische Forschung im Sinne der Biopolitik auszurichten und die psychiatrische Praxis auf der Basis der »Euthanasie«-Aktion neu zu ordnen. Von September 1935 bis Januar 1939 änderte sich an der Zusammensetzung der Vereinsorgane der Gesellschaft Deutscher Neurologen und Psychiater kaum etwas. Ernst Rüdin amtierte als Vorsitzender -die Bezeichnung »Reichsleiter« war 1936 aufgegeben worden 1 -, Heinrich Pette als sein Stellvertreter, Paul Nitsche als Geschäftsführer. Als der Beirat am 24. September 1938 -unmittelbar vor dem Beginn D 1. Die Gesellschaft Deutscher Neurologen und Psychiater und die »Aktion T4« folger Karl Bonhoeffers als Ordinarius für Psychiatrie und Neurologie in Berlin. 6 Damit war das Netzwerk um Bonhoeffer endgültig zerschlagen -1941 übernahm de Crinis von Bonhoeffer auch noch das Amt des ersten Vorsitzenden der Berliner Gesellschaft für Psychiatrie und Neurologie, 7 so dass Störfeuer von dort kaum mehr zu erwarten war. 8 De Crinis baute in Berlin sein eigenes Netzwerk auf, dessen Fäden sowohl in die Wissenschaft als auch in die Politik hineinreichten. So wurde er 1938, noch vor seinem Wechsel in die Reichshauptstadt, in das Kuratorium des Kaiser-Wilhelm-Instituts für Hirnforschung in Berlin-Buch berufen. 9 Auch verfügte de Crinis als Vorkämpfer des Nationalsozialismus in Österreich, Mitglied der SS (seit 1936) und Freund des Chefs der Spionageabwehr Inland im Reichssicherheitshauptamt, Walter Schellenberg (1910 Schellenberg ( -1952 , 10 über ein großes politisches Kapital. Dies dürften die ausschlaggebenden Gründe gewesen sein, die Rüdin bewogen, an de Crinis festzuhalten. Dessen Berufung zum Ministerialreferenten (Sachbearbeiter für medizinische Fragen) im Amt Wissenschaft des Reichsministeriums für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung zum 1. Januar 1940 11 zeigte, dass dies ein kluger Schachzug gewesen war -über de Crinis bekam das Netzwerk um Ernst Rüdin erstmals einen unmittelbaren Zugang zum Reichswissenschaftsministerium. Die Position de Crinis' im informellen Beziehungsgeflecht der Gesellschaft Deutscher Neurologen und Psychiater sollte während der Kriegszeit zusehends stärker werden. Carl Schneider war 1935 in seiner Eigenschaft als Herausgeber der »Allgemeinen Zeitschrift für Psychiatrie und psychisch-gerichtliche Medizin« in den Beirat aufgenommen worden. Nachdem er dieses Amt niedergelegt hatte, schien sein Verbleib im Beirat offenbar nicht mehr zwingend notwendig -Schneider blieb aber, wie noch zu zeigen sein wird, dem Netzwerk um Ernst Rüdin und Paul Nitsche auf der informellen Ebene eng verbunden. Dasselbe gilt wohl auch für Hermann Hoffmann und Paul Schröder. Beide hatten, wie weiter oben eingehend beschrieben, in den vorangegangenen Jahren im Rahmen der wissenschaftlichen Fachgesellschaft enger mit Ernst Rüdin zusammengearbeitet -Hoffmann vor allem im Hinblick auf die Etablierung der Insulinkomatherapie, Schröder im Zusam-D D · Die Gesellschaft Deutscher Neurologen und Psychiater im Zweiten Weltkrieg dass er seinen Entschluss als endgültig betrachte und hierüber mit Ihnen auch bereits übereingekommen sei.« Unter diesen Umständen betrachte er, Creutz, es als seine »Pflicht«, dem Ruf Rüdins zu folgen. Also übernahm Walter Creutz im Mai 1939 21 die Schriftführung der Gesellschaft Deutscher Neurologen und Psychiater, während sich Kurt Pohlisch künftig um die Kassenführung kümmerte. Offiziell fungierte Creutz als »Geschäftsführer«, da die Satzung der Gesellschaft das Amt des »Schriftführers« nicht kannte. 22 Creutz machte sich gleich ans Werk und übernahm von Nitsche die Heraus gabe des Berichts über die Fünfte Jahresversammlung der Gesellschaft Deutscher Neurologen und Psychiater. 23 Die Mitglieder wurden im Juli 1939 offiziell von dem Wechsel in der Geschäftsführung in Kenntnis gesetzt. 24 Über die Gründe, die Paul Nitsche veranlasst hatten, das Amt des Geschäftsführers niederzulegen, kann man nur Vermutungen anstellen. Das Schreiben von Creutz an Rüdin legt nahe, dass Nitsches Entscheidung mit Mittelkürzungen in seinem Arbeitsbereich als Direktor der Heil-und Pflegeanstalt Sonnenstein und als Beratender Psychiater im Sächsischen Ministerium des Innern zusammenhing. Das Amt des Geschäftsführers war mit einem erheblichen Maß an Verwaltungsarbeit verbunden -er trug nicht nur die Hauptlast der Korrespondenz im Zusammenhang mit der Organisation der Jahresversammlungen, sondern hatte auch die Mitgliedsbeiträge einzuziehen und die Vereinskasse zu führen. Nitsche hatte alle diese Arbeiten von seinem Büroapparat auf dem Sonnstein nebenbei erledigen lassen. Es ist wahrscheinlich, dass diese Praxis den rigorosen Sparmaßnahmen im sächsischen Anstaltswesen in der unmittelbaren Vorkriegszeit zum Opfer gefallen war, zumal Nitsche, wie noch zu zeigen sein wird, seit 1937 im Konflikt mit dem sächsischen Innenministerium lag. Keinesfalls war sein Rücktritt als Geschäftsführer auf Differenzen innerhalb der Gesellschaft Deutscher Neurologen und Psychiater zurückzuführen. Nitsche blieb in allen Angelegenheiten der Fachgesellschaft der wichtigste Ansprechpartner Rüdins. Auf der formalen Ebene fand dies seinen Ausdruck darin, dass Nitsche -nun als vom Vorsitzenden berufenes Mitglied -im Beirat verblieb. Der Beirat setzte sich also fortab zusammen aus dem Vorsitzenden Ernst Rüdin, dem stellvertretenden Vorsitzenden Heinrich Pette, dem Geschäftsführer Walter Creutz sowie Maximinian de Crinis, Ernst Kretschmer, Paul Nitsche, Kurt Pohlisch, Hans Roemer, Georges Schaltenbrand, Hugo Spatz, Wilhelm Tönnis und Viktor v. Weizsäcker. 25 Allerdings tagte er niemals in dieser Zusammensetzung, 26 da sich kurz nach dem personellen Revirement die Organisationsstrukturen der Gesellschaft Deutscher Neurologen und Psychiater weitgehend auflösten. 21 Creutz an Rüdin, 15.5.1939 D D · Die Gesellschaft Deutscher Neurologen und Psychiater im Zweiten Weltkrieg habe, weswegen er am liebsten demnächst einmal nach München kommen wolle, da Sie in Berlin immer so in Anspruch genommen seien. Ich will Ihnen also soweit, wie hiermit geschehen konnte, Nachricht geben. Jedenfalls bin ich nunmehr entschlossen, im Frühjahr hier zu gehen, und zwar gleichgiltig [sic] , ob sich für mich noch eine andere Tätigkeitsmöglichkeit bietet oder nicht. Meine Gründe werden Sie nach dem neulich von mir und Dr. V. [ellguth] Ihnen Gesagten verstehen. Ich habe mittlerweile in Dr. [esden] noch sehr intensive und von meiner Seite mit aller Deutlichkeit und Unverhohlenheit (ja Schroffheit) geführte Auseinandersetzungen gehabt. (Natürlich will man mich in Dr. [esden] nicht etwa los sein.).« 50 Wer war dieser Falk Ruttke? 51 Er hatte von 1912 bis 1914 und von 1918 bis 1920 Rechts-und Staatswissenschaften an der Universität Halle/Saale studiert. 1921war er zum Dr. jur. promoviert worden, hatte aber noch im selben Jahr -weil er das römische Recht ablehnte, wie er in einem Lebenslauf aus dem Jahre 1939 angab 52 -sein Referendariat abgebrochen. In den 1920er Jahren arbeitete er als Geschäftsführer für verschiedene Interessenverbände, von 1931 bis 1933 war er als Richter am Arbeits gericht in Groß-Berlin tätig. Schon 1932 wechselte der frühere Freikorpskämpfer, Angehörige des Deutschvölkischen Schutz-und Trutzbundes und Stahlhelmer von der DNVP zur NSDAP über, ab 1933 war er Mitglied der SS, 1938 wurde er zum SS-Sturmbannführer befördert -in dieser Eigenschaft führte er schließlich 1940 im Auftrag des Höheren SS-und Polizeiführers im »Warthegau« eine Schulung der im besetzten Polen eingesetzten SS-Stäbe in Rassenfragen durch. Nach der nationalsozia listischen Machtübernahme machte Ruttke zielstrebig Karriere. Er trat als juristischer Sachbearbeiter und Hilfsreferent in die Abteilung Volksgesundheit (Referat Bevölkerungspolitik, Erb-und Rassen pflege) des Reichs-und Preußischen Ministeriums des Innern ein, wo er 1937 zum Oberregierungsrat befördert wurde. Zudem übernahm er die Geschäftsführung des »Reichsausschusses für Volksgesundheitsdienst« und der »Reichszentrale für Gesundheitsführung« im Reichsinnenministerium und des »Reichsausschusses für hygienische Volksbelehrung«, der eng mit dem Deutschen Hygiene-Museum in Dresden verzahnt war. Ruttke war zudem im Mai 1933 in den »Sachverständigenbeirat für Bevölkerungs-und Rassenpolitik« berufen worden, dem, wie bereits erwähnt, auch Ernst Rüdin in führender Stellung angehörte. Seitdem arbeiteten Ruttke und Rüdin zusammen. Ruttke gehörte bekanntlich gemeinsam mit Gütt und Rüdin zu den Kommentatoren des »Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses« und war, wie erwähnt, auch beim Erbbiologischen Kurs an der Deutschen Forschungsanstalt für Psychiatrie im Januar 1934 mit einem Vortrag über »Rassenhygiene und Recht« vertreten. Gemeinsam mit Nitsche sollte Ruttke auf der Ersten Jahresversammlung der Gesellschaft Deutscher Neurologen und Psychiater ein Hauptreferat über »Erbpflege im Familienrecht« halten, in dem er die Grundzüge eines neuen Eheund Familienrechts »mit nordischem Rechtsstil« anstelle des bisher vorherrschenden »jüdischen Rechtsstiles« 53 entwerfen wollte. Dabei sprach er sich dafür aus, die Eheschließung durch den Standesbeamten vom Vorliegen eines vom zuständigen Gesundheitsamt ausgestellten Ehetauglichkeitszeug-50 Nitsche an Rüdin, 3.7.1937 Gleichwohl sah sich das Reichsinnenministerium veranlasst, am 11. Juni 1938 einen weiteren Entwurf zum »Dritten Gesetz zur Änderung des Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses« vorzulegen. Dieser sah vor, die Erbgesundheitsgerichte beizubehalten, aber um zwei Laienrichter zu ergänzen, »deutsche Staatsangehörige deutschen oder artverwandten Blutes, bei denen auf Grund ihrer persönlichen Lebensführung Verständnis für die Familienpflege vorausgesetzt werden« 66 könne. Gedacht war an »Hoheitsträger« des Nationalsozialismus und an »deutsche Mütter«: Jeweils eine der beiden Laienrichterstellen sollte mit einer Frau besetzt werden ( § 6, Abs. 1). Neu war auch der Passus über die Einrichtung eines »Ausschusses für Erbgesundheitsfragen«, an den sich die Erbgesundheitsobergerichte zu wenden hätten, wenn sie sich anschickten, eine Grundsatzentscheidung zu fällen oder von den Entscheidungen anderer Erbgesundheitsobergerichte abzuweichen. Auch das Reichsinnenund das Reichsjustizministerium sowie der Stab des »Stellvertreters des Führers« sollten sich in strittigen Fällen an diesen Ausschuss wenden können, dessen Gutachten bindend sein sollten. Der Ausschuss D 1. Die Gesellschaft Deutscher Neurologen und Psychiater und die »Aktion T4« sollte sich aus einem Vorsitzenden -der längere Zeit den Vorsitz eines Erbgesundheitsgerichts oder -obergerichts innegehabt haben musste und vom Reichsinnen-und Reichsjustizministerium sowie vom »Stellvertreter des Führers« gemeinsam dem Reichskanzler zur Ernennung vorzuschlagen warund vier Beisitzern zusammensetzen, die Hitler vom Reichsinnenministerium vorgeschlagen werden sollten, wobei der »Stellvertreter des Führers« dem Ministerium zwei Kandidaten »zum Vorschlag namhaft« machen konnte. Voraussetzung einer Berufung zum Beisitzer im »Ausschuss für Erbgesundheitsfragen« sollten »hervorragende Erfahrungen in Erbgesundheitsfragen« sein ( § 10, a-c). 67 Letztlich war es auf ein energisches Veto aus dem Reichsjustizministerium zurückzuführen, dass dieser Entwurf nicht verwirklicht wurde. Wie Heydrich am 2. Juli 1938 an Himmler berichtete, habe der Sachbearbeiter des Reichsjustizministeriums -es handelte sich um Oberlandesgerichtsrat Franz Maßfeller 68 -wissen lassen, dass Minister Franz Gürtner , dem der Entwurf noch nicht vorgelegen hatte, unter diesen Umständen sicherlich anregen werde, »auf die Erbgesundheitsgerichte überhaupt zu verzichten«. 69 Lammers wiederum sei zwar für die Beibehaltung der Erbgesundheitsgerichte, habe aber klargestellt, »dass er dem Führer zur Zeit nicht mit dem Plan eines Reichsgesundheitsgerichts kommen könne, da sich beim Führer in letzter Zeit eine immer stärker werdende Abneigung dagegen entwickelt habe, die Zuständigkeiten der Gerichte zu verstärken.« Heydrich meinte hingegen, Hitler habe dem Reichsgesundheitsgericht im Grundsatz bereits zu gestimmt. Die »Form der Bindung der Erbgesundheitsverfahren an die Gerichte« sei bei »Erlass des Gesetzes bewusst deshalb gewählt worden, weil […] eine unabhängige, von den Eingriffen aller übrigen Stellen freie Entscheidung erforderlich war. Es sollte ferner durch diese Bindung das Gedankengut der Erb-und Rassenpflege auch in die übrigen Zweige der Rechtspflege hineingetragen werden.« Die Entscheidungspraxis der Erbgesundheitsgerichte könne zwar nicht voll befriedigen, doch müsste man hier durch eine sorgfältigere Auswahl der Richter und Beisitzer gegensteuern. Mit der Abschaffung der Erbgesundheitsgerichte würde »vor aller Öffentlichkeit und auch dem Ausland gegenüber an den verfahrensmäßigen Grundlagen der ausmerzenden Erbpflege gerüttelt werden, was unter allen Umständen bedenklich erscheinen muss.« Angesichts dieser Konstellation hatte weder das Reichserb gesundheitsgericht noch der Ausschuss für Erbgesundheitsfragen eine Chance. Die Verhandlungen um das Dritte Änderungsgesetz zum »Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses« gingen daher aus wie das Hornberger Schießen. 70 In der Forschung ist umstritten, ob sich im Zusammenhang mit dem »Dritten Änderungsgesetz zum Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses« nicht doch informell ein Ausschuss für Erbgesundheitsfragen im Reichsinnenministerium bildete, aus dem dann später der »Reichsausschuss zur Erfassung erb-und anlagebedingter schwerer Leiden« hervorging, der die Kinder-»Euthanasie« organisierte. 71 In allen Punkten, in denen es um rein wissenschaftliche oder wissenschaftspolitische Belange ging (etwa die Frage nach der weiteren Umgestaltung der Landschaft der wissenschaftlichen Fachgesellschaften), war und blieb Rüdin der entscheidende Akteur. Nitsche konnte aber -wie noch zu zeigen sein wirdgemäß der eingangs zitierten Maxime des »Maßnahmenstaates«, dass »politisch ist, was die politischen Instanzen für politisch erklären«, die Entscheidungskompetenz jederzeit an sich ziehen -bis hin zu der Frage, ob die Gesellschaft Deutscher Neurologen und Psychiater öffentlich tagen sollte oder nicht. Im Folgenden sollen die wichtigsten Knoten und Verbindungslinien in den parallelen Netzwerkstrukturen herausgearbeitet werden: die Forschungsabteilung in der Landesanstalt Brandenburg-Görden und ihre Verbindung zum Kaiser-Wilhelm-Institut für Hirnforschung, die Forschungsabteilung in der badischen Anstalt Wiesloch bzw. der Universitätsklinik in Heidelberg und ihre Verbindung zur Deutschen Forschungsanstalt für Psychiatrie sowie die Querverbindungen zwischen dem Netzwerk der Gesellschaft Deutscher Neurologen und Psychiater und der Gruppe der T4-Gutachter. In seiner Eigenschaft als ärztlicher Leiter der »Reichsarbeitsgemeinschaft Heil-und Pflegeanstalten« war Paul Nitsche auch zuständig für die Forschungen, die im Rahmen des Massenmordes an geistig behinderten und psychisch erkrankten Menschen stattfanden. Dieser eröffnete der psychiatrischen D D · Die Gesellschaft Deutscher Neurologen und Psychiater im Zweiten Weltkrieg Forschung ganz neue Möglichkeiten, indem man Menschen, die im Zuge der Selektion aussortiert und zur Vernichtung freigegeben worden waren, als »interessante Fälle« aber die Aufmerksamkeit der Forscher auf sich gezogen hatten, zunächst klinisch beobachtete, bevor man sie ermordete, um sodann ihre Gehirne zu sezieren und pathologisch zu untersuchen. Zu Beginn des Jahres 1941 -wahrscheinlich am 23. Januar -fand eine Konferenz beim Reichsdozentenführer statt, bei der ein groß angelegter Forschungsplan in Verbindung mit der »Euthanasie« entworfen wurde. In die vorgesehenen Massenuntersuchungen sollten vierzehn der dreißig anatomischen Institute des Deutschen Reiches einbezogen werden. 109 143 Logischer Abschluss des Untersuchungsprogramms war -wie ein den Akten der »Forschungskinder« vorangestellter Laufzettel belegt 144 -die Sektion, insbesondere die makroskopische und histologische Untersuchung des Gehirns. Schon seit 1942 gingen aus verschiedenen Anstalten Gehirne von verstorbenen und auch von gezielt ermordeten Patientinnen und Patienten zur histopathologischen Untersuchung ein, wobei besonders enge Beziehungen zu der hessischen Landesanstalt Eichberg bestanden. 145 In einem »Bericht über Stand, Möglichkeiten und Ziele der Forschung an Idioten und Epileptikern im Rahmen der Aktion« 146 vom 24. Januar 1944 konstatierte Schneider, dass man eine »unerwartet große Fülle verschiedenster Schwachsinnszustände« habe feststellen sowie die »ungeheure Verschiedenheit der erblichen Belastungen und die große Bedeutung der Erbkrankheiten, insbesondere der Schizophrenie für schwere Schwachsinnszustände« herausarbeiten können. Um die Bedeutung dieses Forschungsbefundes hervorzuheben, fügte Schneider seinem Bericht einen kurzen historischen Exkurs ein: Da im 19. Jahrhundert Fälle von »Idiotie«, »Schwachsinn« und Epilepsie aus der »staatlichen Irrenfürsorge« ausgegliedert und -ohne psychiatrische Versorgung -in den Einrichtungen der Caritas und der Inneren Mission untergebracht worden seien, habe man der Frage der Erblichkeit dieser Leiden keine Aufmerksamkeit geschenkt -mit Folgen, die unter dem Gesichtspunkt der Rassenhygiene bedenklich erschienen: Eltern, »bei denen ein erblich schwerer Schwachsinn in der Kinderreihe aufgetreten« sei, könnten »nicht rechtzeitig von der Zeugung weiterer Kinder« abgehalten werden. Andererseits würden »gerade die verantwortungsbewussten Eltern« mit einem schwer geistig behinderten Kind auf weitere Kinder verzichten, auch wenn es sich um eine »nichterbliche Schwachsinnsform« handele -dies sei angesichts des gegenwärtigen »Existenzkampfes« des deutschen Volkes »unerträglich«. Mit Blick auf seine eigene Forschungsabteilung stellte Schneider mit Genugtuung fest, dass die aufgeworfenen Fragen einer »weitgehendsten Lösung« zugeführt worden seien, »weil dank der Aktion eine rasche anatomische und histologische Klärung erfolgen konnte«. Da die anatomischen Untersuchungen »überraschende Befunde« ergeben hätten, sei es »dringend zu wünschen, dass wir im größeren Umfange Gehirne von Idioten und schwer Schwachsinnigen zugeleitet bekommen«. Zu dieser Zeit bemühte sich Schneider, die Kinder und Jugendlichen, die in Heidelberg untersucht und dann wieder in ihre Heimatanstalten entlassen worden waren, in die »Kinderfachabteilung« auf dem Eichberg ver- Zwischen der Forschungsabteilung Heidelberg und der Deutschen Forschungsanstalt für Psychiatrie bestand -wie Volker Roelcke in den letzten Jahren überzeugend dargelegt hat -eine enge Verbindung. Diese lief über Julius Deussen (1906 Deussen ( -1974 . 148 Deussen, der einen Doktorgrad sowohl in Medizin als auch in Philosophie hatte, arbeitete -nach der Erteilung der ärztlichen Approbation im Jahre 1936 -zunächst als Assistent, dann als Leiter der neu eröffneten »Insulin-Station« an der Psychiatrischen Universitätsklinik in Freiburg und als Oberarzt an der hessischen Landesheilanstalt Haina. 1938/39 absolvierte er einen Ausbildungslehrgang am Institut für Erbbiologie und Rassenhygiene an der Universität Frankfurt/Main unter Otmar Freiherr v. Verschuer. Von März 1939 an war er dann an der Deutschen Forschungsanstalt für Psychiatrie in München tätig, wo er in der Nachfolge Friedrich Stumpfls die Leitung der Abteilung für Erbpsychologie übernahm. 149 In der Zeit zwischen der Verleihung der außerplanmäßigen und der planmäßigen Professur ließ sich Mauz als T4-»Gutachter« anwerben. Dies geschah in der von der »Reichsarbeitsgemeinschaft Heilund Pflegeanstalten« für den 15. August 1940 in der Tiergartenstraße 4 in Berlin anberaumten Sitzung zur Anwerbung von »Gutachtern«, in der der Göttinger Ordinarius Gottfried Ewald vehementen Protest gegen die laufende »Euthanasie«-Aktion einlegte. 166 1948 sagte Mauz zunächst aus, er sei in der Sitzungspause gegangen und nicht von der T4-Zentrale angeworben worden, 167 in einer zweiten Vernehmung im Jahre 1960 räumte er dann aber ein, bis zum Schluss geblieben und als »Gutachter« verpflichtet worden zu sein. Mitgemacht habe er, um »zu retten, was zu retten« war. Er habe insgesamt nur eine Sendung mit etwa 25 Meldebögen erhalten, diese monatelang liegen gelassen und erst, nachdem er gemahnt worden sei, zurückgeschickt und sich dabei in allen Fällen gegen die »Euthanasie« ausgesprochen. 168 In der Mitarbeiterliste der T4-Zentrale ist sein Name mit dem Hinweis vermerkt, dass er vom 2. September 1940 bis zum 29. Januar 1941 als »Gutachter« tätig gewesen sei. 169 Hinweise, dass er nur widerstrebend mitgemacht und das Verfahren verschleppt habe, finden sich in der internen Korrespondenz der T4-Zentrale nicht -im Gegensatz etwa zu Werner Villinger. Dass Mauz im Oktober 1940 zu den Beratungen über ein künftiges »Gesetz über Sterbehilfe« hinzugezogen wurde, spricht auch in seinem Falle eher dafür, dass er das uneingeschränkte Vertrauen der T4-Zentrale hatte. Diese -gemeinsam mit dem Ortsgruppenleiter von Achern verfasste -Schrift legte Roemer am 12. Juni 1940 vor. Zentrales Argument Roemers war, »dass die Durchführung der Maßnahme in ihrer bisherigen, nicht legalisierten Form die ahnungslosen Familien der erfassten Kranken, die sich auf die Organe der Anstalt ja oft jahrzehntelang rückhaltlos verlassen konnten […] , wie ein Blitz aus heiterem Himmel treffen und von ihnen als schwerster Vertrauensbruch empfunden wird. […] Dabei werden sie selbstverständlich in erster Linie den Anstaltsdirektor als die verantwortliche Person zur Rechenschaft ziehen.« 179 Die Folge wäre, so Roemer, dass sich Menschen in frühen Stadien einer psychischen Erkrankung nicht mehr freiwillig in Anstaltsbehandlung begeben würden. Weiter argumentierte er, dass -wenn die Deportationen im selben Umfang wie bisher weitergingen -auch Patientinnen und Patienten, die auf dem Wege der Besserung seien und zur Arbeit eingesetzt werden könnten, mit verlegt würden, was auch unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten unsinnig sei. Auch verwies Roemer auf die psychische Belastung des Personals und den zu erwartenden Motivationsverlust, und schließlich machte er darauf aufmerksam, dass wissenschaftliche Forschungen, etwa zu den neuen somatischen Therapien, in der Folge der Deportation zum Erliegen kommen könnten. In seiner Denkschrift argumentierte Hans Roemer also nicht mit ethischen Prinzipien -wenngleich durchaus davon auszugehen ist, dass er der »Euthanasie« grundsätzlich ablehnend gegenüberstand. Vielmehr führte er, wohl mit Blick auf die Adressaten der Denkschrift -er hoffte, dass sie vom badischen Innenministerium an die zuständigen Reichsbehörden weitergeleitet würde -, pragmatische Argumente ins Feld, die an sein Engagement für die offene Fürsorge, eine aktivierende Anstaltsbehandlung, die Qualifizierung des Personals, die Einführung der neuen Somatotherapien und an seine Forschungen zur Schizophrenie an der Illenau anknüpften. Dieses taktische Vorgehen ist typisch: Alle Denkschriften und Memoranden gegen die »Euthanasie«, die uns vorliegen, verzichten mit Blick auf die Adressaten weitgehend auf den Rekurs auf moralische Appelle und ethische Argumente und konzentrieren sich ganz auf pragmatische Gesichtspunkte. 180 Ludwig Verlegungen zu beteiligen, entzog sich nach Möglichkeit der Mitwirkung, indem er sich krank mel dete, und ließ sich schließlich, nachdem er alle rechtlich zulässigen Einspruchsmöglichkeiten ausgeschöpft hatte und sein Versuch gescheitert war, für die eigene Anstalt eine Ausnahmeregelung zu erwirken, in den Ruhestand versetzen. Dies führte zu längeren Verzögerungen im Ablauf der »planwirtschaftlichen Maßnahmen« in der Illenau, was »möglicherweise ein entscheidender Grund dafür« 186 war, dass die Zahl der Opfer hier relativ geringer ausfiel als anderswo. Vor die Wahl gestellt, sich entweder an der »Euthanasie«-Aktion zu beteiligen, dadurch an dem Mordprogramm mitschuldig zu werden, aber auch die Möglichkeit zu behalten, seinen Einfluss zugunsten einzelner Patientinnen und Patienten geltend zu machen, oder aber die Mitwirkung grundsätzlich zu verweigern, entschied sich Roemer, einer gesinnungsethischen Linie folgend, für die zweite Option. Auf die Selektion der Patientinnen und Patienten nach seinem Ausscheiden aus dem Dienst hatte er dadurch freilich keinen Einfluss mehr -dies verdeutlicht das Dilemma, in das sich alle Ärzte in den Heil-und Pflegeanstalten, konfrontiert mit der perfiden Organisation der »Euthanasie«-Aktion, gestellt sahen: mitschuldig zu werden durch Tun oder aber durch Unterlassen. Seine Kritik an der »Euthanasie« brachte Hans Roemer sowohl in mündlicher als auch schriftlicher Form gegenüber den politisch Verantwortlichen auf Landes-wie auf Reichsebene unmissverständlich zum Ausdruck -ein Schritt, der ein gehöriges Maß an Zivilcourage erforderte. Hervorzuheben ist, dass sich Roemer mit seiner Kritik zunächst an Ernst Rüdin und Paul Nitsche wandte: Zu Recht ging er davon aus, dass die Gesellschaft Deutscher Neurologen und Psychiater dazu berufen gewesen wäre, um in der Sphäre der Politik im Namen der Psychiatrie gleichsam offiziell Protest gegen das Vernichtungsprogramm einzulegen. Roemers Fall belegt jedoch eindeutig, dass die Führung der Fachgesellschaftweit davon entfernt, eine kritische Position einzunehmen -im Gegenteil ihre Aufgabe darin sah, Protest Letztlich kommt es entscheidend darauf an, neben den jeweiligen objektiven auch die subjektiven Handlungsspielräume auszuloten, die mentalen Dispositionen eines historischen Akteurs, die darüber entscheiden, ob er objektiv gegebenen Möglichkeiten auch ausschöpfen kann. Wolfgang Franz Werner gelangt hier zu einem sehr harschen Urteil über Creutz: »Er hat allerdings versucht, im Rahmen seines Ermessensspielraums bremsend zu wirken, aber immer in einer Form, die auch mit nationalsozialistischen Argumenten zu vertreten war. Dabei hütete er sich immer davor, sich zu exponieren, und war sorgsam darauf bedacht, sich so wenig und so spät wie möglich festzulegen und Hintertüren offen zu lassen. Mit Geschick und Beweglichkeit versuchte er sich durchzulavieren«. 222 Doch erscheint dieses Urteil viel zu hart. Es ist zu bedenken, dass Creutz -als preußischer Berufsbeamter -aufgrund seines eigenen Wertehimmels bestimmte Optionen, die sich -objektiv betrachtet -den Mittelbehörden boten, um Sand in das Getriebe der »Euthanasie« zu streuen, einfach nicht wahrnehmen und ausnutzen konnte, weil sie für ihn schlichtweg nicht »denkbar« waren. »Nun soll also die Aktion gegen die Geisteskranken auch in der Provinz Hannover los gehen. Als mir Herr Andreae dies sagte, habe ich in der nächsten Nacht nicht geschlafen. Denn es schwankt mir der Boden unter den Füßen. Alles was mich in meinem Berufe bisher gelenkt hat, schwindet dahin. Ich will noch einmal einen Bericht an den OPr [Oberpräsidenten] machen. Es wird dies zwar nichts mehr nutzen. Aber ich glaube dann mein Gewissen entlastet zu haben. Ich meine auch, alle Direktoren sollten noch einmal schreiben. Denn wenn wir schweigen, könnte man uns nachher sagen, dass wir schweigend zugeschaut haben, und man könnte uns die Verantwortung zuschieben. Ich bitte Sie, mir zu sagen, welche Einstellung Sie zu meinem Vorschlag einnehmen. Können und wollen Sie mir ferner sagen, von wem diese Aktion ausgeht. Wer sind die Männer, die über Leben und Tod entscheiden von Leuten, die sie nur auf einem kurzen Fragebogen kennen. Herr Andreae sagte mir, es seien Psychiater. Gewiss, der erste Gedanke, lebensunwertes Leben zu vernichten, kommt von [Alfred] Hoche. Aber ich nahm an, dass dieser damals unter den Eindrücken der enormen Verluste bester Menschen im Weltkrieg und unter dem Eindruck der Wirkungen der Hungerblockade auf unsere Frauen und Kinder sein Buch geschrieben hat. Aber in den Verhältnissen leben wir doch jetzt nicht. Was also soll das Ganze? Das Geld kann es doch auch nicht sein, denn ein [Sammeltag?] bringt 35 Millionen ein. Und die Raumfrage? Sollte sie nicht anders zu lösen sein? Warum das Lügen? Aber man muss ja lügen, denn anders lässt sich diese Aktion ja nicht durchführen. Daraus spricht aber auch das schlechte Gewissen, mit dem die Aktion ausgeführt wird. Können Sie mir sagen, wie viel Tote es schon gegeben hat? […] Ich kann mir nicht denken, dass Hitler unterrichtet ist. Er und seine Männer haben noch nie gelogen und er, der das Denken der ganzen Welt geändert hat und eine Revolution auf ganz legalem Wege durchgeführt hat, der sollte bei den Geisteskranken keinen anderen Rat wissen, als sie umzubringen. Das kann ich nicht glauben. 327 Die organisatorischen Fragen wurden in diesem Ortskomitee besprochen. Als Veranstaltungsort hatte Heyde frühzeitig den Saal des Platz'schen Gartens, des vornehmsten Würzburger Gartenrestaurants, reservieren lassen, »den einzigen gegenwärtig nicht von der Wehrmacht belegten größeren Saal Würzburgs«. 328 eine Stellungnahme, bevor er sie an das Reichsgesundheitsamt schicken wollte, das routinemäßig über ausländische Kongressteilnehmer zu unterrichten war. 332 Tatsächlich wurden Einladungen an ausländische Gäste verschickt, der Liste der Vortragenden kann man, wie noch zu zeigen sein wird, entnehmen, dass zumindest auch prominente Schweizer Psychiater eingeladen waren. Während die organisatorischen Fragen geklärt wurden, nahm auch das Programm immer festere Gestalt an. Doch stellte der Kriegsverlauf -mit dem Überfall der Wehrmacht auf die Sowjetunion trat der Zweite Weltkrieg in seine entscheidende Phase ein -das Zustandekommen der Jahresversammlung wieder in Frage. Um sie zu retten, wandte sich Nitsche am 30. August 1941 an Karl Brandt -er war, wie bereits erwähnt, neben Philipp Bouhler der andere der beiden »Euthanasie«-Bevollmächtigten -, und legte ihm dar, welche Gründe »vom psychiatrischen Standpunkt aus« 333 für die Abhaltung der geplanten Tagung sprachen. In diesem Schreiben wurde Nitsche noch konkreter: »Die den Irrenärzten obliegende Verpflichtung, unzählige, hoffnungslos unheilbare, verblödete, sich selbst zur Last fallende Menschenruinen am Leben zu erhalten, bedeutet von jeher eine schwere innere Belastung aller derjenigen gesund empfindenden Ärzte, die aufgrund ihrer inneren Hinneigung zur psychiatrischen Wissenschaft sich diesem Berufe gewidmet haben. Es lässt sich auch nicht leugnen und ist erklärlich, dass die erwähnte Schattenseite des Berufes in weiten Kreisen, namentlich auch in der Partei, das Ansehen der Irrenärzte überhaupt herabgemindert hat […] Wenn also tatsächlich gerade der nationalsozialistische Staat der wissenschaftlichen und praktischen Psychiatrie durch ihren Einsatz bei der Durchführung rassenhygienischer und rassenpflegerischer Maßnahmen Aufgaben von grundlegender Bedeutung für die gesundheitliche Förderung und Aufartung gestellt hat, Aufgaben, die nur von qualitativ hochstehenden Ärzten gelöst werden können, so muss doch betont werden, dass viele unter den heutigen Irrenärzten nach Persönlichkeit, innerer Einstellung und Können solchen Aufgaben nicht gewachsen sind. Es ist deshalb dringend notwendig, das menschliche und wissenschaftliche Niveau der Psychiater zu heben«. Zusammenfassend kann man festhalten, dass die Initiative zur Sechsten Jahresversammlung der Gesellschaft Deutscher Neurologen und Psychiater vom 5. bis 7. Oktober 1941 in Würzburg von Paul Nitsche ausging, dass die Planung der Veranstaltung in der Hauptsache bei Nitsche, Heyde und Rüdin lag -während der Geschäftsführer Walter Creutz und auch der stellvertretende Vorsitzende Heinrich Pette weitgehend außen vor gelassen wurden -und dass die Vorbereitung der Veranstaltung in enger Abstimmung mit der Zentrale der »Aktion T4« erfolgte, die auch die Finanzierung übernahm. In der Frage, wer letzten Endes über die Zulassung der Vorträge bei der Jahresversammlung entscheiden sollte, beanspruchte Nitsche das letzte Wort für sich. Rüdins vorsichtigem Einwand, man möge Creutz nicht übergehen, begegnete Nitsche mit Entschiedenheit -und in einem schroffen Ton, den man in seiner Korrespondenz mit Rüdin aus der Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg nicht finden kann. Hier wird noch einmal schlaglichtartig deutlich, dass es im Verhältnis zwischen Rüdin und Nitsche zu einer Verschiebung der Gewichte gekommen war. Nitsches Initiative war erklärtermaßen von dem Gedanken getragen, die Fachöffentlichkeit über die Grundlagen und Ziele der laufenden »Euthanasie«-Aktion aufzuklären und auf diese Weise dem mit Sorge wahrgenommenen Imageschaden der Psychiatrie entgegenzuwirken und dem damit in Zusammenhang gebrachten Nachwuchsmangel abzuhelfen. In welcher Form dies geschehen sollte, muss offen bleiben. Da die »Aktion T4« als »geheime Reichssache« galt und der von den Organisatoren des Massenmordes an psychisch erkrankten und geistig behinderten Menschen ausgearbeitete Entwurf eines »Gesetzes über die Sterbehilfe bei unheilbar Kranken« im Herbst 1940 von Hitler endgültig verworfen worden war, 341 da die Würzburger Tagung groß angelegt war und auch für Nichtmitglieder offen sein sollte, zudem Vortragende aus der Schweiz eingeladen waren, ist anzunehmen, dass man keine offizielle Erklärung plante, sondern eher beabsichtigte, die laufende »Euthanasie«-Aktion als eine Art offenes Geheimnis zu behandeln. Bei der Zusammenstellung des Programms der Würzburger Tagung spielten -neben dem Bezug zur »Euthanasie«-Aktion -auch noch andere Gesichtspunkte eine Rolle. Hier ist an erster Stelle das komplizierte, immer noch nicht abschließend geregelte Verhältnis zwischen Psychiatrie und Psychotherapie zu nennen, das durch die Gründung der Deutschen Gesellschaft für Kinderpsychiatrie und Heilpädagogik im Jahre 1940 noch weiter kompliziert wurde. In gemeinen Ärztlichen Gesellschaft für Psychotherapie in Gang zu halten. Dabei wurde sein alter Verbündeter Ernst Kretschmer allmählich zur Belastung. Rüdin war zugetragen worden, dass Kretschmer einem nicht näher bezeichneten Briefpartner gegenüber hatte verlauten lassen, er sei »wieder indirekt von einer für uns sehr wichtigen maßgebenden Stelle dringend gewarnt worden, festere Beziehungen [zu der ›Psychotherapeutischen Restgesellschaft‹] zu knüpfen.« 352 Dabei könnten »Schwierigkeiten« entstehen, die »keineswegs nur auf dem wissenschaftlichen und ärztlichen Gebiet« lägen. Kurz vor dem Jahreswechsel 1940/41 hatte Rüdin ein persönliches Gespräch mit Göring, wobei er den »Eindruck« gewann, dass dieser »Kretschmers Widerstand in der Sache als unangenehm empfindet.« Kretschmer strebte nun ein Dreiertreffen mit Rüdin und Roemer an, um »Vorschläge zu machen, einerseits bis zu welcher Grenze ein Zusammengehen mit den Rest-Therapeuten für unsere Gesellschaft allenfalls möglich und tragbar ist, andererseits was wir von uns aus tun können, um selbst die Psychotherapie als Sache unserer Gesellschaft in und außerhalb unserer Kongresse zu propagieren.« Göring hingegen wünschte ein Dreiertreffen mit Rüdin und Pette, bevor eine Zusammenkunft mit Kretschmer anberaumt würde. In dieser verfahrenen Situation wandte sich Rüdin am 6. Februar 1941 mit dem Vorschlag an Nitsche, dass man sich, bevor man Kretschmer und Göring wieder zusammenbrachte, in der Besetzung Linden, Rüdin, Pette, Nitsche und Göring treffen sollte. Nitsche war mit dieser Besetzung wohl nicht ganz einverstanden, wie seine Randglossen erkennen lassen: Pettes Namen versah er mit einem Fragezeichen, dafür fügte er den Namen Heydes hinzu. Hier betrat nun ein neuer Akteur die Bühne: Werner Heyde, der seinerseits den Anspruch erhob, »über Psychotherapie zu lesen und als Psychotherapeut anerkannt zu werden«. 353 Heyde war wegen seiner Rolle als Medizinischer Leiter der »Aktion T4« und der daraus erwachsenden Verflechtungen mit der Sphäre der Politik innerhalb kürzester Zeit zu einem wichtigen Akteur geworden -seine Ambitionen konnten nicht einfach übergangen werden. Seinen Vorschlag zu einem Vorgespräch ohne Kretschmer begründete Rüdin damit, dass man »nach beiden Richtungen hin, sowohl nach der Richtung Göring, als auch nach der Richtung Kretschmer hin wachsam sein« müsse, damit man »die Wahrnehmung der Interessen unserer Gesellschaft auch richtig« 354 treffe. Er, so Rüdin weiter, wolle »verhüten, dass den Psychiatern die Psychotherapie weggenommen« 355 werde. Sie sollte »an den Hochschulen in ein gediegenes Fahrwasser gelenkt« werden. Rüdin wünschte sich, dass Kretschmer »im Rahmen unserer Gesellschaft« dafür sorgte, dass »gute Psychotherapie« an den Hochschulen auch wirklich »vertreten würde«. Von Göring wiederum wünschte sich Rüdin, »dass er im Benehmen mit Kretschmer die ungediegenen psychotherapeutischen Persönlichkeiten namhaft macht und dass wir verhindern, dass diese in unsere Gesellschaft kommen, dass aber die anderen, die gut sind, Mitglieder unserer Gesellschaft werden.« Auf dieser Basis, so Rüdin, könnte man Göring »die Vertretung der Psychotherapie in unserem Beirat überlassen«, während Kretschmer gebeten werden sollte, »die Belange der Psychologie und der Konstitutionspathologie im Rahmen des Beirates« zu vertreten. Rüdin Göring sperrte sich jedoch gegen eine solche Vereinigung. Er äußerte, erstens, Bedenken im Hinblick auf das Verhältnis zwischen der Deutschen und der Internationalen Gesellschaft für Psychotherapie -im Jahr zuvor war C.G. Jung von seinem Amt als Vorsitzender der internationalen Fachgesellschaft zurückgetreten. Zweitens fragte sich Göring besorgt, inwieweit das Deutsche Institut für psychologische Forschung und Psychotherapie von der Verbindung der beiden Fachgesellschaften tangiert werden würde. Damit hing, drittens, die Frage ab, wie sich künftig das Verhältnis zu den Psychologen, auch auf internationaler Ebene, gestalten würde, wenn sich die Psychotherapeuten der psychiatrisch-neurologischen Fachgesellschaft anschließen würden. Heyde vertrat hier ganz dezidierte Ansichten: Die Deutsche Allgemeine Ärztliche Gesellschaft für Psychotherapie dürfe nicht als Landesgruppe der internationalen Fachgesellschaft auftreten. Die Belange des Berliner Instituts sollten von denen der psychotherapeutischen Fachgesellschaft getrennt werden, die Kontakte zu den Psychologen über das Berliner Institut laufen. Dagegen wehrte sich Göring. Er plädierte für eine lockere Verbindung: Gerne wolle er Rüdin über die Entwicklungen in der psychotherapeutischen Fachgesellschaft orientieren, aber keine Befehle von ihm entgegennehmen. Kretschmers Position lag nicht weit von der Görings. Das Verhältnis zwischen diesen beiden Protagonisten hatte sich seit 1940 ein wenig entspannt. Göring hatte Kretschmer sogar den Vorsitz der Internationalen Allgemeinen Ärztlichen Gesellschaft für Psychotherapie angetragen, nachdem C.G. Jung zurückgetreten war 358 -Kretschmer hatte freilich abgelehnt. 359 In der Besprechung im Reichsinnenministerium schlug Kretschmer vor, dass Göring in den Vorstand der Gesellschaft Deutscher Neurologen und Psychiater eintreten und dass im Beirat der psychiatrisch-neurologischen Fachgesellschaft eine Kommission für Psychotherapie eingerichtet werden sollte. Weiter sollten die Kongresse der beiden Fachgesellschaften in zeitlicher und räumlicher Nähe stattfinden. Mit anderen Worten: Kretschmer war von dem in der Vorkriegszeit verfolgten unnachgiebigen Kurs abgewichen und auf die von Rüdin skizzierte Kompromisslinie eingeschwenkt, die auf eine Kooperation zwischen ihm und Göring hinauslief. Wahrscheinlich ließ die unerwartete Konkurrenz durch Heyde die früheren Gegner enger zusammenrücken. Uneins waren die beiden jedoch nach wie vor in der Frage einer psychothe- innerhalb weniger Wochen getroffen werden 363 -was dazu führte, dass Paul Schröder im Vorfeld der Gründung der Deutschen Gesellschaft für Kinderpsychiatrie und Heilpädagogik ohne weitere Rücksprache mit Ernst Rüdin agierte. Die Einbettung der Gründungsversammlung in die Kinderkundliche Woche sicherte der neuen Fachgesellschaft große Aufmerksamkeit. 364 Es nahmen etwa 500 Personen aus dem In-und Ausland teil, »Gelehrte und Praktiker des Arbeitsgebiets, Lehrer, Ärzte, Kindergärtnerinnen, Fürsorger und Fürsorgerinnen, Verwaltungsbeamte usw.«. 365 Anwesend waren auch Vertreter des Reichsinnenministeriums und des Reichsministeriums für Volksaufklärung und Propaganda, der Präsident sowie weitere Mitarbeiter des Reichsgesundheitsamtes, zahlreiche Funktionäre der Reichswaltung des NS-Lehrerbundes, des Amtes für Gesundheitsführung der Reichsjugendführung und anderer Parteiorganisationen. Paul Schröder eröffnete die Tagung mit einem Grundsatzreferat über »Kinderpsychiatrie und Heilpädagogik«. Hierin setzte er auf eine deutliche Abgrenzung zur Psychiatrie. Er bedauerte, dass sich, »namentlich im Ausland, der Name Kinderpsychiatrie eingebürgert« 366 habe -denn man müsse »den Begriff Psychiatrie schon sehr weit fassen«, um das neue Fachgebiet der »Kinderpsychiatrie« darunter subsummieren zu können, »etwa als Sorge um das Seelische schwieriger Kinder, als kindliche Seelsorge«. Ausdrücklich stellte Schröder auch klar, dass »Kinderpsychiatrie« keine »Psychopathenfürsorge« 367 sei. Ihr Arbeitsgebiet sei vielmehr viel weiter gesteckt: »Wir wollen schwierige, außerdurchschnittliche Kinder in den Besonderheiten ihres seelischen Gefüges verstehen und erkennen, richtig bewerten und leiten, zielbewusst erziehen und eingliedern lernen.« Deutliche Bezugspunkte der »Kinderpsychiatrie« sah Schröder zur Psychologie, sofern diese »Charakterologie oder Charakterkunde« 368 sei. Vor allem aber betonte Schröder die Verbindung zur Sonderpädagogik. 369 Die »Kinderpsychiatrie« stehe »nicht neben Sonderpädagogik, ist vielmehr wesentlicher Bestandteil von ihr, ragt allenthalben in die anderen Teilgebiete der Sonderpädagogik hinein und über sie hinaus in die Pädagogik hinein, soweit diese Charakterkunde« 370 sei. Im Hinblick auf die praktische Organisation der Kinderpsychiatrie umriss Schröder ein abgestuftes System von Anstalten »nach der Art der Charakterstruktur und der Umweltschädigung« 371 -von Einrichtungen »vom Gepräge der Landeserziehungsheime für vorwiegend milieugeschädigte, asthenische und charakterlich leicht Abartige« über »Sonderanstalten oder Sonderabteilungen für stark Haltschwache und Verführbare bei sonst wertvollem Charaktergefüge und guter Begabung« sowie für die D D · Die Gesellschaft Deutscher Neurologen und Psychiater im Zweiten Weltkrieg »schwer Gemütsarmen und aktiv Geltungssüchtigen« bis hin zu »Verwahrungsanstalten für die schwer Gemütsarmen zusammen mit den übermäßig Erregbaren und Gewalttätigen«. Die charakterologische Einordnung der verhaltensauffälligen Kinder sollte in vorgeschalteten »Beobachtungs-und Sichtungsabteilungen« erfolgen. Ziel sei es, so Schröder, »geschädigte und nicht vollwertige Kinder zu ihrem und der Allgemeinheit Nutzen eingliedern [zu] helfen […] in die Volksgemeinschaft und den allgemeinen Wirtschaftsprozess« 372 -immer aber »unter steter sachkundiger Auswahl des Wertvollen und Erziehungsfähigen, mit ebenso strengem und zielbewusstem Verzicht auf die als überwiegend wertlos und unerziehbar Erkannten.« In mehreren Vorträgen und Referaten ging es denn auch um den Einfluss der Umwelt und der Erbanlage auf kindliche Verhaltensauffälligkeiten, mithin um die Grenzen der Erziehung, und um ein differenziertes System von Erziehungsanstalten. So sprach Werner Villinger, inzwischen in Breslau, über »Erziehung und Erziehbarkeit«, Landesrat Walther Hecker (1889-1974) , der Dezernent des Rheinischen Fürsorgewesens in der Provinzialverwaltung in Düsseldorf, über die »Neugliederung der öffentlichen Ersatzerziehung nach Erbanlage und Erziehungserfolg«, Dr. Kurt Isemann (1886-1964) , Leiter eines Jugendsanatoriums in Nordhausen/Harz über »Psychopathie und Verwahrlosung«, 373 Dr. Anna Leiter , die Leiterin der Kinderabteilung und Kinderpoliklinik in Leipzig, über »Gemütsarme, antisoziale Kinder und Jugendliche«, Hans Aloys Schmitz (Bonn) über die Rheinische Landesklinik für Jugendpsychiatrie und das Rheinische Provinzial-Institut für psychiatrisch-neurologische Erbforschung an der Universität Bonn und Direktor Erwin Lesch ( † 1974) aus München über die »Sichtung der Schulversager -eine heilpädagogische Aufgabe«. Der Humangenetiker Günther Just lieferte zudem mit seinem Referat über »Gemeinsame Probleme von Erbbiologie und Kinder forschung« genetisches Grundlagenwissen. In einer zu Beginn der Nachmittagssektion anberaumten »Geschäftssitzung« teilte Paul Schröder der Versammlung die »Absicht« 374 der am 27. März 1939 in Wiesbaden gegründeten Arbeitsgemeinschaft für Kinderpsychiatrie mit, sich in eine Deutsche Gesellschaft für Kinderpsychiatrie und Heilpädagogik »umzuwandeln«. Die Teilnehmer, so vermerkt es der Kongressbericht, »stimmten dem zu«. Weiter »sprachen [sie] sich auch dafür aus, dass der Einberufer Professor Schröder, Leipzig, als Vorsitzender der Gesellschaft bestellt und beauftragt wird, einen Vorstand zu bilden, Mitglieder in den Beirat zu berufen und die Geschäfts-und Kassenführung zunächst selber bis zur nächsten Mitgliederversammlung weiter zu führen«. Ferner wurde er »beauftragt, eine Satzung vorzubereiten und sie der nächsten Mitgliederversammlung zur Beschlussfassung vorzulegen«. Dies war ein sehr bemerkenswertes Prozedere: Das Publikum der Fachtagung wurde umstandslos als »Mitgliederversammlung« der neu zu schaffenden Gesellschaft aufgefasst -obwohl die rechtlichen Voraussetzungen dazu noch nicht gegeben waren, da noch keine Satzung vorlag. Paul Schröder wurde von dieser »Mitgliederversammlung« per Akklamation als Vorsitzender mit weitreichenden Befugnissen vorgeschlagen -von wem er letztlich bestellt und mit der eigentlichen Vereinsgründung beauftragt werden sollte, bleibt an dieser Stelle völlig offen. Dies ist insofern von Bedeutung, als nunmehr in keiner Weise mehr die Rede davon war, dass die neue Fachgesellschaft als »Untergruppe« -etwa als eigene Abteilung -der Gesellschaft Deutscher Neurologen und Psychiater angegliedert werden sollte. Auch agierte Paul Schröder de facto als Vorsitzender der neuen Gesellschaft, nicht etwa als Geschäftsführer oder Abteilungsleiter unter dem Vorsitz Ernst Rüdins. Bemerkenswert ist ferner, dass die Gesellschaft Deutscher Neurologen und Psychiater bei der Gründung der neuen Fachgesellschaft gar nicht vertreten war -weder durch Ernst Rüdin noch durch ein anderes Mitglied des Vorstands oder Beirats. Ursprünglich hatte ihr Geschäftsführer Walter Creutz das Referat über die Organisation der Kinder-und Jugendpsychiatrie in der 372 Anon., Bericht Noch bevor diese Nachricht in München eintraf, sah sich Rüdin am 24. Juli 1941 gezwungen, abermals in der Sache aktiv zu werden. Es hatte ihn nämlich das Gerücht erreicht, dass Göring die führerlose Deutsche Gesellschaft für Kinderpsychiatrie und Heilpädagogik in seiner Gesellschaft der Psychotherapeuten aufgehen lassen wollte. Angeblich wollte Göring »zwischen organisch kranken und neurotischen Kindern« 409 unterscheiden und »verlange die Letzteren für sich«. Rüdin protestierte umgehend bei Linden. Görings Linie, so Rüdin, scheine dahin zu gehen, D 3. Die Sechste Jahresversammlung der Gesellschaft Deutscher Neurologen und Psychiater »der Psychiatrie all das zuzuweisen, was therapeutisch aussichtslos ist und unsere Wissenschaft nach außen hin unbeliebt zu machen geeignet erscheint, während er alles therapeutisch Hoffnungsvolle für sich und seine Psychotherapeuten beansprucht. Würde diese Zweiteilung durchgeführt, so bliebe der praktischen Psychiatrie außer den Gerichtsgutachten nur noch all das übrig, was jetzt in die Heil-und Pflegeanstalten geht. Einer derartigen Entwicklung müsste aber mit allem Nachdruck vorgebeugt werden, schon um unseres Nachwuchses und um des Rufes der Psychiatrie nach außen hin willen. Denn auf der einen Seite suchen die Neurologen das Gebiet der Psychiatrie immer mehr einzuengen; auf der anderen Seite stehen die Psychotherapeuten und beanspruchen für sich all das, was den ärztlich und nicht rein theoretisch eingestellten Nachwuchs bei unserem Fache hält. Den Gegensatz dieser drei Strömungen kann die kommende Generation nur dadurch überwinden, dass sie, wie es auch jetzt schon in den Psychiatrischen und Nervenkliniken angestrebt wird, alle drei Richtungen in sich vereinigt. Das Auseinanderfallen in drei sich bekämpfende Sonderfächer würde ich für ein großes Unglück halten.« Vor diesem Hintergrund sollte die Sechste Jahresversammlung der Gesellschaft Deutscher Neurologen und Psychiater das Feld der Psychotherapie mit abdecken und mit der Tagung der Kinderpsychiater eng verzahnt werden. Dazu kam es jedoch nicht, die Würzburger Jahresversammlung wie auch die kinderpsychiatrische Tagung mussten, wie bereits erwähnt, abgesagt werden, 410 Wegen der hohen Bedeutung, welche die Veranstalter dieser Würzburger Tagung zugeschrieben hatten, lohnt es sich, einen genaueren Blick auf das Programm zu werfen, 443 457 Über Stipendien und Aufenthalte als Gastwissenschaftler waren darüber hinaus die verschiedenen Zentren der Hirnforschung und Neurochirurgie eng vernetzt. 458 Die Präsentation war geeignet, das hohe Niveau der Neurochirurgie und ihre militärische Bedeutung ins rechte Licht zu rücken -nicht zuletzt in Richtung auf die Wehrmacht und SS, deren höchste Sanitätsoffiziere ausdrücklich nach Würzburg eingeladen waren. Zwar waren auch schon vor dem Krieg an »Militär-und militärärztliche Behörden« 459 Einladungen zu den Jahresversammlungen der Gesellschaft Deutscher Neurologen und Psychiater ergangen. Dieses Mal verfügte Rüdin jedoch, dass die Sanitätsinspektionen der Wehrmacht und der Waffen-SS frühzeitig verständigt werden sollten, verbunden mit der Bitte, innerhalb der Wehrmacht auf die Würzburger Tagung aufmerksam zu machen. 460 Ein weiteres Moment kam hinzu: Die Referate und Vorträge der ersten Sektion mussten von den drei Auf andere Art zu entlasten -man sieht: Schneider spricht an dieser Stelle zwar verklausiert von »Maßnahmen zur wirtschaftlichen Entlastung«, allen Zuhörern hätte aber klar sein müssen, was gemeint war: die Vernichtung der unheilbar Kranken in den Anstalten. Ob Schneider im Hauptteil seines Referates die Tatsache des Krankenmordes explizit benennen wollte, ob dies Ernst Rüdin in seiner Eröffnungsrede überlassen werden sollte oder ob man es bei solchen -freilich nicht misszuverstehenden -Andeutungen belassen wollte, muss offen bleiben. Möglicherweise ist den Veranstaltern nach dem Stopp der »Aktion T4« im August 1941 von höherer Stelle bedeutet worden, dass eine offiziöse Verlautbarung unerwünscht war, möglicherweise wollte man die »Euthanasie« nicht explizit erwähnen, weil es in dieser Phase -nach der Einstellung der Massenvergasungen im Rahmen der »Aktion T4«unklar war, wie es mit dem Massenmord an psychisch erkrankten und geistig behinderten Menschen weitergehen würde. Klar ist -Schneiders Referat beweist es eindeutig -, dass man die »Euthanasie« auf der anstehenden Versammlung der Fachgesellschaft als offenes Geheimnis behandeln wollte. Einen zweiten Punkt gilt es herauszustellen: Selten ist die für die Medizin im Nationalsozialismus so typische Verschränkung von Heilen und Vernichten so klar herausgearbeitet worden wie in diesem Dokument. Modernste Therapie, Eugenik und die Vernichtung der »Ballastexistenzen« wurden als komplementäre Elemente einer Gesamtstrategie gesehen, die -so Schneider wörtlich -»billiger«, »leidsparender« sowie »wirtschaftlich und für das Arbeitsvolumen des Volkes erfolgversprechender« sei. Aus diesem Grunde sei es zwingend notwendig, der Psychiatrie gerade »jetzt an dem großen Wende punkt […] , an welchem sie überhaupt erst eintritt in den Rahmen wirklicher Heilkunde«, »genügende Geldmittel« zuzuweisen. Ziemlich unverblümt deutete Schneider darauf hin, dass infolge der »Euthanasie« Ressourcen freigesetzt worden waren, die man zu diesem Zweck nutzen könne: »Nicht Creutz bot an, die Anfrage selber zu beantworten, falls Rüdin ihm dazu »Weisungen« erteilen würde. Für den Fall, dass Rüdin die Beantwortung der Anfrage selber übernehmen wollte, unter breitete Creutz seinerseits Vorschläge. Neben der »erbbiologischen Forschung«, die auch unter Kriegsbedingungen fortgeführt werden müsse, werde man wohl vor allem auf die Bedeutung »neuropathologischer Forschungen im Zusammenhang mit den Kriegsverletzungen des Gehirns und des übrigen Nervensystems und den neurochirurgischen Erfahrungen« hinweisen wollen. Weiterhin, so Creutz, halte er es für »zweckmäßig […] , darauf aufmerksam zu machen, dass die Forschung auf dem Gebiet der Psychosen, und zwar gegenwärtig besonders auf dem Gebiete der Elektroschocktherapie nicht zum Erliegen kommen« dürfe. Zu diesem Zwecke sei es notwendig, die Herstellung der hierzu notwendigen Apparate aufrechtzuerhalten. In diesem Zusammenhang verwies Creutz auf eine Initiative Herbert Lindens, der mittlerweile zum »Reichsbeauftragten für die Heil-und Pflegeanstalten« aufgestiegen war. 498 Auch Heinrich Pette beeilte sich, an Rüdin Ein Text mit dem Titel »Bemerkungen über die zukünftige Ausgestaltung der Psychiatrie« 517 aus seiner Feder datiert vom 28. Januar 1943. Dieser Text schloss in mancher Hinsicht an Schneiders »Schlussbemerkungen« über die »wissenschaftliche, wirtschaftliche und soziale Bedeutung und Zukunft der psychiatrischen Therapien« aus dem Jahre 1941 an. Die Fortschritte bei der Diagnose und Therapie psychischer Erkrankungen, die dazu geführt hätten, dass sich »der Aufgabenkreis aller psychiatrisch tätigen Ärzte gegenüber früher geradezu ungeheuerlich erweitert« habe, die Diskreditierung des Psychiaterberufs seit der Machtübernahme, »die Unpopularität vieler vom Psychiater hauptsächlich zu tragender Maßnahmen« und der dadurch verursachte Nachwuchsmangel, schließlich auch die »Euthanasie«-Aktion machten, so Schneider, eine Umgestaltung des Anstaltswesens notwendig. Hatten die »Schlussbemerkungen« 1941 diesen Punkt noch vorsichtig umschrieben, so sprach ihn Schneider in dem Papier von 1943 ganz unverblümt an: »In organisatorischer Hinsicht hat die Euthanasie und die dadurch ermöglichte Aufhebung zahl reicher Anstalten die Notwendigkeit zur zweckmäßigen Ausnutzung, Einrichtung und Lage der noch verbliebenen Anstalten sowie zu einer planmäßigen Ordnung der Anstaltsverteilung über Deutschland gefordert. Diese organisatorischen Maßnahmen werden auch dadurch bedingt, dass die Euthanasie nur dann volkspsychologisch richtig durchgeführt werden kann, wenn sicher steht, dass der Kranke nicht nur medizinisch ausreichend behandelt, sondern auch sozial, d.h. durch Arbeit genügend wertmäßig eingestuft werden konnte.« Neu war ein detaillierter Forderungskatalog. Dieser betraf zunächst die Reorganisation des Anstaltsnetzes. Heil-und Pflegeanstalten sollten so gelegen sein, dass sich volkswirtschaftlich nutzbare industrielle oder landwirtschaftliche Arbeit für die Bewohnerinnen und Bewohner finden ließ, eine »ambulante Behandlung« möglich und die Möglichkeit ärztlicher Fortbildung gegeben war. »Es muss das therapeutische Rüstzeug der Anstalten ständig verbreitert, ihre diagnostischen Möglichkeiten durch die Einführung der modernen Untersuchungsmethoden erweitert und es muss die Möglichkeit der Behandlung entlassener Kranker über die bloße Befürsorgung hinaus geschaffen werden.« Die Anstaltspsychiater sollten »in die volkspflegerischen Maßnahmen der Jugendfürsorge« und »der kriminalbiologischen Betreuung« einbezogen werden. Die Aus-und Fortbildung der Psychiater sollte verbessert, ihre soziale Stellung aufgewertet werden. Gefordert wurden eine »bedeutend größere Dotierung der Psychiatrie mit Forschungsaufträgen, Forschungsmitteln, besondere Sorge für den forensisch brauchbaren jungen Nachwuchs, mehr Aufträge für Auslandsreisen und Fortbildungsreisen« -und schließlich auch die »Sicher-und Gleichstellung des Irrenpflegepersonals mit anderem Pflege personal«. Es stellte sich nun die Frage, wie dieser Forderungskatalog an die politischen Entscheidungsträger vermittelt werden konnte, insbesondere an Reichsgesundheitsführer Leonardo Conti. Hier traf es sich gut, dass Conti -wie schon im Jahre 1942 -von sich aus den Kontakt zu Ernst Rüdin in dessen Eigenschaft als Vorsitzender der Gesellschaft Deutscher Neurologen und Psychiater suchte. Ein Forschungsbericht über »Die Leistungen der deutschen Psychiatrie seit 1933« Am 7. Mai 1943 meldete sich nämlich Walter Schütz, der persönliche Referent des Reichsgesundheitsführers, erneut bei Rüdin: Conti wolle sich einen Überblick über den Stand der deutschen medizinischen Wissenschaft im internationalen Vergleich verschaffen, und da die Darstellungen der Medizin-D D · Die Gesellschaft Deutscher Neurologen und Psychiater im Zweiten Weltkrieg geschichte im Allgemeinen nur bis in die 1920er Jahre reichten, wurde Rüdin in seiner Eigenschaft als Vorsitzender der Gesellschaft Deutscher Neurologen und Psychiater gebeten, einen umfassenden Überblick über die wissenschaftlichen Leistungen der deutschen Psychiatrie und Neurologie seit 1933 zu schreiben, wenn möglich bis zum Ende des Sommersemesters 1943. 518 Wie es scheint, reichte Rüdin tatsächlich innerhalb weniger Wochen einen zwanzigseitigen Bericht ein, wobei er wahrscheinlich der Anregung Schütz' folgte, andere Kollegen zur Abfassung mit heranzuziehen. 519 Das Papier ist in sechs größere Themenblöcke gegliedert: Forschungen zur psychiatrischen Krankheitslehre und zu den körperlichen Grundlagen psychischer Störungen, zur psychiatrischen Therapeutik, zur psychiatrischen Erbbiologie, zur Histopathologie des Zentralnervensystems, zur Serologie und Biochemie des Gehirns sowie -manches noch einmal wiederholend -zur Neurologie und Neurochirurgie. In den knapp gehaltenen Darlegungen zur Krankheitslehre und zu den körperlichen Grundlagen psychischer Störungen werden ganz unterschiedliche Forschungsansätze zusammengefasst: so etwa die von dem Internisten Dietrich Jahn entwickelte Hypothese eines Zusammenhangs zwischen Stoffwechselstörungen und Schizophrenie, die Beiträge zur Verortung psychischer Störungen in bestimmten Hirnregionen von Karl Kleist, Friedrich Panse, Hugo Spatz und Bernhard Patzig, Kurt Schneiders Klassifikation »psychopathischer Persönlichkeiten«, die Studien Paul Schröders und Hans Heinzes zu »klinischen Charakteranomalien«, Ernst Kretschmers und seiner Schüler Friedrich Mauz und Willi Enke zu Korrelationen zwischen Konstitution und Charakter und schließlich Albert Harrassers Spekulationen über die Beziehungen zwischen Rasse, Körperbau und psychischen Störungen. 520 Der Abschnitt zur Weiterentwicklung der psychiatrischen Therapie beginnt mit der Malariatherapie der Progressiven Paralyse nach Julius Wagner-Jauregg, die, so Rüdin, »auch heute noch den übrigen Behandlungsmethoden überlegen« 521 sei und »daher in Deutschland immer noch bevorzugt« werde. Rüdin erwähnte aber auch Methoden, die Körpertemperatur durch physikalische Mittel wie den »Aufenthalt in heißer Luft, Behandlung mit Diathermie und mit Kurzwellen« zu steigern statt durch Fieberschübe infolge einer künstlich verursachten Infektion. Ausdrücklich wird in diesem Zusammenhang die von dem Balneologen Heinrich Lampert (1898-1981) entwickelte Methode der »Überwärmungsbäder« erwähnt. Weiter weist der Bericht darauf hin, dass die von Franz Jahnel, dem Leiter des Instituts für Spirochätenforschung an der Deutschen Forschungsanstalt für Psychiatrie, »im Tier experiment entdeckte ausgezeichnete Wirkung des Rhodiums auf die Syphilis« 522 von dem Dermatologen Josef Vonkennel (1897-1963) »am Menschen […] bestätigt worden« sei. Da Rhodium nur im »feindlichen Ausland« gewonnen werde, hätten aber »Versuche an Paralytikern noch nicht D D · Die Gesellschaft Deutscher Neurologen und Psychiater im Zweiten Weltkrieg D D · Die Gesellschaft Deutscher Neurologen und Psychiater im Zweiten Weltkrieg das auslösende Agens der multiplen Sklerose bezeichnet.« 545 Vorsichtig optimistisch äußert sich der Bericht schließlich auch über ein Projekt Ernst Kretschmers und seines Mitarbeiters Gerhard Mall zur »Anwendung von ferment-chemischen Methoden in der psychiatrischen Endokrinologie«: 546 »Sie beabsichtigen, bei ihren Untersuchungen mit Hilfe einer Modifikation der bekannten Abbaumethode [Emil] Abderhaldens Abwehrfermente bei psychiatrischen Erkrankungen der verschiedensten Art nachzuweisen unter der Vorstellung, dass ›jeder Abbau von Gehirnsubstrat endogene Prozesspsychose, fehlender Abbau von Gehirnsubstrat psychogene Seelenstörung be-deute‹. Sie machten die Angabe, dass es, wenn auch nicht in allen Fällen, gelungen sei, bei Schizophrenen Hirnrindensubstrat spaltende Fermente nachzuweisen. Die Bestätigung dieser anscheinend sehr umfangreichen Untersuchung steht indessen noch aus. Es wird insbesondere für die Zukunft recht aufschlussreich sein zu sehen, welche Schlüsse aus ausgedehnten klinischen Reihenuntersuchungen unter Einfügung genügender normaler Kontrollen für die psychiatrische Krankheitserkennung gezogen werden können.« Dieser Ansatz erinnert an zu gleicher Zeit unternommene Versuche, mit Hilfe der Abderhaldenschen Abwehrfermente einen »Schnelltest« zur Feststellung der Rassenzugehörigkeit anhand einer Blutprobe zu entwickeln. 547 »Gedanken und Anregungen betr. die künftige Entwicklung der Psychiatrie«. Lobbyarbeit bei Leonardo Conti und Karl Brandt D In Vorbereitung auf diesen Empfang wurde eine Denkschrift mit dem Titel »Gedanken und Anregungen betr. die künftige Entwicklung der Psychiatrie« zusammengestellt, die über weite Strecken auf dem Text Schneiders vom 28. Januar 1943 basierte und vermutlich im Umlaufverfahren von den übrigen Teilnehmern der Delegation überarbeitet wurde. 549 Dieser Text wurde Conti vor dem Empfang am 5. Juni 1943 zugesandt. 550 Er endete mit einem 17-Punkte-Forderungskatalog zur Reform der praktischen Psychiatrie, der noch einmal in nuce alle Forderungen bündelte, die vom inneren Zirkel um Ernst Rüdin und Paul Nitsche seit Beginn des »Dritten Reiches« vor und hinter den Kulissen erhoben worden waren und die ganz auf der offiziellen Linie der Gesellschaft Deutscher Neurologen und Psychiater lagen: D D · Die Gesellschaft Deutscher Neurologen und Psychiater im Zweiten Weltkrieg D wann. Dies ist kein Zufall, wurzelten diese Vorstellungen doch in der Reformpsychiatrie der 1920er Jahre -die vor dem Hintergrund der nationalsozialistischen Erbgesundheitspolitik eine neue Rahmung erfahren hatten: als komplementäre Elemente eines umfassenden Konzepts, das Erbbiologie, Eugenik und auch »Euthanasie« einschloss. Das von Carl Schneider in seinem Text vom 28. Januar 1943 formulierte taktische Argument wurde in der Denkschrift wieder aufgegriffen: »Je mehr aber tüchtige Fachärzte der Bevölkerung die Erfolge der modernen Therapie vor Augen führen, je mehr Erkrankte, die früher chronischem geistigen Siechtum verfielen, geheilt oder doch wenigstens als berufsfähig wieder ins freie Leben zurückkehren und den für Jahrzehnte zu erwartenden Mangel an Arbeitskräften verringern helfen werden, umso williger wird die Bevölkerung auf die erbbiologischen Maßnahmen eingehen, weil sie sieht, dass der mit ihrer Durchführung in erster Linie betraute Ärztestand gleichzeitig Heil-und Vorbeugungsarbeit im Großen leistet; denn nichts vermag ja naturgemäß Misstrauen gegen Ärzte in dem Maße zu beheben, wie sichtbare Behandlungserfolge. […] Aber auch die Maßnahmen der Euthanasie werden umso mehr allgemeines Verständnis und Billigung finden, als sichergestellt und bekannt wird, dass in jedem Fall bei psychischen Erkrankungen alle Möglichkeiten erschöpft werden, um die Kranken zu heilen oder doch so weit zu bessern, dass sie, sei es in ihren Berufen, sei es in einer anderen Form volkswirtschaftlich wertvoller Betätigung zugeführt werden.« 554 Am 25. August 1943 berichtete Nitsche nach München, was sich »im Anschluss an unseren Empfang beim Reichsärzteführer zugetragen hat«. 555 Bei dieser Gelegenheit war offenbar verabredet worden, dass Schneider »zunächst einen Aufsatz über die moderne psychiatrische Therapie für die Gesundheitsführung verfassen sollte.« Gemeint war hier die Zeitschrift »Gesundheitsführung. Ziel und Weg«, die als Monatsschrift des Hauptamtes für Volksgesundheit der NSDAP, des Sachverständigenbeirats und des NSDÄB firmierte. Schneider hatte nun das Aufsatzskript geliefert, und Nitsche, der den Text für »sehr geeignet« hielt, hatte ihn sofort an Conti weitergeleitet, »mit der Bitte, den Artikel möglichst rasch erscheinen zu lassen. Daraufhin hatte Nitsche »ein sehr entgegenkommendes Schreiben« von Conti erhalten, in dem dieser »sein vollständiges Einverständnis mit dem Inhalt dieses Aufsatzes« aussprach und zusicherte, den Artikel in der nächsten Nummer der »Gesundheitsführung« zu veröffentlichenwas auch geschah. 556 In derselben Zeitschrift sollte, »was wir ja auch in Berlin besprochen haben«, ein weiterer Aufsatz von Hans Heinze über kinderpsychiatrische Fragen erscheinen. 557 Nitsche regte an, D D · Die Gesellschaft Deutscher Neurologen und Psychiater im Zweiten Weltkrieg D D · Die Gesellschaft Deutscher Neurologen und Psychiater im Zweiten Weltkrieg »In Anbetracht der Tatsache, dass nicht nur bei der Wehrmacht, sondern auch auf dem zivilen Sektor Veröffentlichungen über Fragen der Kriminalität untersagt sind, erscheint es nicht zweckmäßig, dieses Thema in der jetzigen Lage zu diskutieren. Da die Gefahr besteht, dass hierbei das bei der Wehrmacht und im zivilen Dienst gesammelte forensische Erfahrungsgut gebracht werden soll, wird empfohlen, dieses Thema ganz von der Tagesordnung abzusetzen.« Dagegen wurde angeregt, über »elektroenzephalographische Untersuchungen und ihren Wert bei fraglichen Anfallsleiden« zu sprechen. Statt des Schwerpunkts »Forensische Psychiatrie« hatte sich Rüdin entschlossen, noch einmal die Therapie der Psychosen, insbesondere die »Schocktherapien«, auf die Tagesordnung zu setzen. Das Programm der Dienstbesprechung ähnelte damit sehr dem der ausgefallenen Sechsten Jahresversammlung der Gesellschaft Deutscher Neurologen und Psychiater. Zwei Wochen später, am 15. August 1944, musste Rüdin dem Beirat jedoch berichten, der Heeressanitätsinspekteur habe mitgeteilt, »dass nun doch bis auf Weiteres mit einer Beteiligung der Wehrmacht an der Dienstbesprechung nicht gerechnet werden« könne. Rüdin war anheim gestellt worden, »die Verhandlungen zu angemessener Zeit wieder neu aufzunehmen.« 573 Die Dienstbesprechung musste entfallen. Damit hatte die Gesellschaft Deutscher Neurologen und Psychiater faktisch aufgehört zu bestehen. Mit Beginn des Zweiten Weltkriegs gerieten die institutionellen Strukturen der Gesellschaft Deutscher Neurologen und Psychiater in Unordnung: Wichtige Protagonisten, allen voran der neue Geschäftsführer Walter Creutz, wurden zeitweilig zur Wehrmacht eingezogen, die laufenden Vereinsgeschäfte kamen weitgehend zum Erliegen, der neu formierte Beirat konnte nicht zusammentreten, die Ausschüsse tagten nicht mehr, die im Jahre 1941 geplante Sechste Jahresversammlung der Gesellschaft Deutscher Neurologen und Psychiater musste kurzfristig abgesagt werden und alle Versuche, sie später noch nachzuholen, scheiterten an den Kriegsbedingungen. Als Organisation existierte die Gesellschaft Deutscher Neurologen und Psychiater -zugespitzt formuliert -seit Kriegsbeginn nur noch auf dem Papier. Als Netzwerk hingegen war sie weiterhin aktiv. Das Beziehungsgeflecht zwischen den Akteuren, die seit 1935 hinter den Kulissen der Gesellschaft Deutscher Neurologen und Psychiater die Fäden zogen, blieb funktionstüchtig und agierte auch in den späten Kriegsjahren noch im Namen der wissenschaftlichen Fachgesellschaft. Doch kam es in den Jahren von 1939 bis 1941 zu deutlichen Verschiebungen und Verwerfungen innerhalb der Netzwerkstrukturen. Hintergrund war der Aufbau eines Machtapparats zur Planung, Vorbereitung, Durchführung und Weiterentwicklung des Massenmordes an geistig behinderten und psychisch erkrankten Menschen in der Sphäre des nationalsozialistischen »Maßnahmenstaates« -eines Machtapparats, in dem sich die »Kanzlei des Führers«, also eine außerhalb der staatlichen Verwaltung und auch der Parteiorganisation angesiedelte führerunmittelbare Sonderorganisation, eine Abteilung des Reichsinnenministeriums, die sich aufgrund einer »Führerbevollmächtigung« innerhalb des Ministeriums verselbstständigen konnte, und ein Expertenstab, der an keinerlei gesetzliche Vorgaben gebunden und keiner rechtlichen Kontrolle unterworfen war, miteinander verbanden. Hier entstand eine hybride Struktur, die die Grenzen des gesellschaftlichen Subsystems Politik durchbrach und sich in das Subsystem Wissenschaft hineinschob. Rund um den wissenschaftlichen Expertenstab, der ein konstitutives Element des neuen Machtapparats darstellte, entstand ein neues Netzwerk, das wiederum das bereits bestehende Netzwerk der Gesellschaft Deutscher Neurologen und Psychiater durchdrang. Schlüsselfigur in diesem Prozess war Paul Nitsche, der bis 1941 zum ärztlichen Leiter der »Euthanasie«-Zentrale aufstieg. Es entstand nun eine doppelte Netzwerkstruktur mit zwei zentralen Knotenpunkten, die von Ernst Rüdin und Paul Nitsche besetzt wurden. War die beherrschende Stellung Rüdins in der wissenschaftlichen Fachgesellschaft bis 1939 unumstritten gewesen, so beanspruchte Nitsche seit 1940 in allen Fragen, die das laufende Vernichtungsprogramm unmittelbar oder mittelbar tangierten, das letzte Wort für sich -und da er sich auf den Machtapparat der »Aktion T4« stützen konnte, verfügte er auch über die Mittel und Möglichkeiten, diesen Anspruch durchzusetzen. Rüdin musste ihm in allen Fragen, denen Nitsche und seine politischen Verbündeten eine politische Dimen sion zuordneten, die endgültige Entscheidung überlassen. Auf anderen Gebieten -so etwa im Hinblick auf die Beziehungen der Gesellschaft Deutscher Neurologen und Psychiater zur Deutschen Allgemeinen Ärztlichen Gesellschaft für Psychotherapie und zur neu gegründeten Deutschen Gesellschaft für Kinderpsychiatrie und Heilpädagogik -agierte Rüdin weiterhin selbstständig. Im Grunde genommen markierte die Verbindung zwischen Rüdin Auch Ernst Rüdin beteiligte sich -entgegen früheren Darstellungen -aktiv an der Propagierung und Legitimierung des Vernichtungsprogramms und an der Begleitforschung zur »Euthanasie«. Im Gegensatz dazu stellten sich zwei Akteure, die bis dahin innerhalb der Gesellschaft Deutscher Neurologen und Psychiater eine tragende Rolle gespielt hatten, gegen die »Euthanasie«: Hans Roemer, der Geschäftsführer des Ausschusses für psychische Hygiene, bis zum Zweiten Weltkrieg einer der eifrigsten Funktionäre der Gesellschaft Deutscher Neurologen und Psychiater, verweigerte die Mitwirkung an den Verlegungen aus der von ihm geleiteten Heil-und Pflegeanstalt Illenau und ließ sich, nachdem seine grundsätzlichen Einwände abgewiesen worden waren, in den Ruhestand versetzen. Walter Creutz, soeben zum neuen Geschäftsführer der Gesellschaft Deutscher Neurologen und Psychiater bestellt, lehnte die »Euthanasie« ebenfalls ab -wobei er, ebenso wie Hans Roemer, in seiner schriftlichen Stellungnahme pragmatische Gesichtspunkte gegen den Krankenmord ins Feld führte -, im Gegensatz zu Roemer blieb er aber auf seinem Posten in der Verwaltung der Rheinprovinz. Als Landesmedizinalrat wirkte er an der Durchführung der »Euthanasie« im Rheinland mit, wobei er in einer Art teilnehmenden Widerstands versuchte, den Ablauf des Vernichtungsprogramms zu verzögern und damit einer möglichst großen Zahl von Patientinnen und Patienten das Leben zu retten. Bezeichnend ist, dass sowohl Roemer als auch Creutz von 1940 an innerhalb des Netzwerks rund um die Gesellschaft Deutscher Neurologen und Psychiater marginalisiert waren. Die Beispiele Hans Roemers und Walter Creutz' markieren die beiden Pole des Spektrums an Handlungsoptionen, die sich Ärzten und Ärztinnen angesichts des Vernichtungsprogramms boten: hier die gesinnungsethisch motivierte Verweigerung der Mitarbeit, dort die verantwortungsethisch begründete Mitwirkung, um zu retten, was zu retten ist. In dieses Spektrum lassen sich auch die vier Fallbeispiele von Ärzten einordnen, die auf je eigene Art und Weise versuchten, die Fachöffentlichkeit gegen den Krankenmord zu mobilisieren: vom offenen Protest (Karsten Jaspersen) über die persönliche Verweigerung der Mitwirkung (Hermann Grimme) bis hin zur Vorbegutachtung der eigenen Patientinnen und Patienten, um einer willkürlichen Selektion vorzubeugen (Gerhard Schorsch), und der heimlichen »Gutachter«-Tätigkeit im Rahmen der »Aktion T4« (Werner Villinger). Bei der Würdigung der verschiedenen Formen der Resistenz ist zu unterscheiden zwischen den objektiven Handlungsspiel-D D · Die Gesellschaft Deutscher Neurologen und Psychiater im Zweiten Weltkrieg räumen -die wiederum abhängig waren von der beruflichen Stellung der Protagonisten -und ihren subjektiven Handlungsspielräumen, den mentalen Dispositionen, die darüber entschieden, ob objektiv gegebene Handlungsoptionen für die Akteure auch »vorstellbar« waren. Die objektiven Handlungsspielräume eines Universitätspsychiaters wie Werner Villinger unterschieden sich deutlich von denen eines Psychiaters im Verwaltungsdienst wie Walter Creutz, eines leitenden Arztes einer staatlichen Heil-und Pflegeanstalt wie Hans Roemer und Hermann Grimme oder einer Einrichtung der Inneren Mission wie Gerhard Schorsch und Karsten Jaspersen. Bei den subjektiven Handlungsspielräumen war nicht die Nähe zum Nationalsozialismus ausschlaggebend: Unter den Psychiatern, die gegen die »Euthanasie« protestierten, finden sich auch »Parteigenossen« wie Karsten Jaspersen oder Bewunderer Hitlers wie Hermann Grimme, unter denen, die am Krankenmord mitwirkten, solche, die wie Friedrich Mauz oder Werner Villinger als »Mitläufer« eingestuft werden können. Auch die Haltung zur Eugenik ist kein aussagekräftiges Unterscheidungsmerkmal. Wie die Beispiele Karsten Jaspersens, Hans Roemers und Walter Creutz' belegen, konnten die Befürwortung der Eugenik und die Ablehnung der »Euthanasie« Hand in Hand gehen. Mehrere Akteure -Hans Roemer, Karsten Jaspersen, Werner Villinger, Gerhard Schorsch und Hermann Grimme -versuchten, Fachkollegen zu einer gemeinsamen Stellungnahme gegen die »Euthanasie« zu bewegen. Sie setzten dabei auch auf die Gesellschaft Deutscher Neurologen und Psychiater -sie wäre die berufene Stelle gewesen, um einen offiziellen Protest der Psychiatrie zu formulieren. Doch scheiterten alle Versuche in dieser Richtung schon im Ansatz. Die Kritiker mussten erkennen, dass die Führung der Fachgesellschaft in das Vernichtungsprogramm verstrickt war, dass sie -weit davon entfernt, sich die Kritik zu Eigen zu machen -sogar versuchte, kritische Stimmen aus der scientifc community zu unterdrücken. Gegenüber der Sphäre der Politik signalisierten Ernst Rüdin und sein innerer Kreis im Namen der Fachgesellschaft Zustimmung zu dem laufenden Massenmord an geistig behinderten und psychisch erkrankten Menschen, sie unternahmen energische Anstrengungen, um die Forschung an Opfern dieses Mordes zu fördern, und entwickelten ein ambitioniertes Programm zur Reorganisation der praktischen Psychiatrie auf der Grundlage der »Euthanasie«. Ihre Bündnispartner aus der Sphäre der Politik versuchten sie dadurch für ihre Pläne zu gewinnen, dass sie wiederholt auf die Möglichkeit aufmerksam machten, der »Euthanasie« durch eine umfassende Modernisierung der Psychiatrie eine festere Legitimationsbasis gegenüber der Öffentlichkeit zu verschaffen. Dementsprechend arbeiteten Rüdin und sein Kreis darauf hin, die Fachöffentlichkeit gleichsam (halb-) offiziell von der laufenden Mordaktion zu unterrichten -um der »Krise der Psychiatrie« entgegenzuarbeiten. Im Denken Rüdins und seines Kreises ergänzten sich die verschiedenen Behandlungsmöglichkeiten -die Arbeitstherapie, die offene Fürsorge, die neuen Somatotherapien und auch die Psychotherapien -, die Maßnahmen der psychischen Hygiene und Rassenhygiene und die »Euthanasie« zu einem umfassenden Konzept. Aktennotiz Nitsches v. 18.9.1941, BArch. R 96 I/5 Möglichkeiten und Ziele der Forschung an Epileptikern im Rahmen der Aktion« für Paul Nitsche, 24.1.1944, BArch. R 96 I/4. Die Datierung aufgrund eines Dokuments mit dem Titel »Anatomischer Forschungsplan gemäß Besprechung vom 23 Beiträge zur NS-»Euthanasie«-Forschung 2002. Fachtagungen vom 24. bis 26. Mai 2002 in Linz und Hartheim/Alkoven und vom 15. bis 17 Bei dieser Gelegenheit empfahl Nitsche den Potsdamer Direktor als möglichen Bearbeiter des klinischen Teils im Kapitel »Psychopathien und pathologische Reaktionen« des seit 1937 von Arthur Gütt herausgegebenen »Handbuchs der Erbkrankheiten« (Nitsche an Rüdin, 20.5.1939, MPIP-HA: GDA 130) Beispiele verführbarer Wissenschaft aus der Zeit des Nationalsozialismus R 96 I/5. Zum Folgenden auch: Falk/Hauer Die Forschungsabteilung in der Landesanstalt Brandenburg-Görden So die These von Peiffer, Hirnforschung Der saubere und der schmutzige Fortschritt, in: Beiträge zur nationalsozialistischen Gesundheits-und Sozialpolitik, Bd. 2: Reform und Gewissen. »Euthanasie« im Dienst des Fortschritts R 96 I/2 Dazu jetzt auch: Paul J. Weindling, Victims and Survivors of Nazi Human Experiments. Science and Suffering in the Holocaust Dazu ausführlicher: Schmuhl, Hirnforschung, S Psychiatric Research and »Euthanasia«: The Case of the Psychiatric Department at the University of Heidelberg Innovation und Vernichtung -Psychiatrische Forschung und »Euthanasie« an der Heidelberger Psychiatrischen Klinik Die »Kinderfachabteilung« der Landesheilanstalt Eichberg 1941 bis 1945 und ihre Beziehungen zur Forschungsabteilung der Psychiatrischen Universitätsklinik Heidelberg unter Carl Schneider Die Forschungsabteilung der Psychiatrischen Universitätsklinik Heidelberg 1943-1945 und ihre Verwicklung in die nationalsozialistische Medical Research and National Socialist Euthanasia: Carl Schneider and the Heidelberg Research Children from 1942 until 1945 Aktennotiz Nitsche für »Jennerwein« (Brack), 25.2.1943, BArch. R 96 I/5 Zu den Einzelheiten ebd BArch. R 96 I/4. Zur Heil-und Pflegeanstalt Wiesloch vgl. Franz Peschke, Ökonomie, Mord und Planwirtschaft. Die Heil-und Pflegeanstalt Wiesloch im R 96 I/4. Danach waren acht spezielle Projekte in Wiesloch geplant: 1) »Motilitätsentwicklung an Hand der Erfahrungen an Idioten« (Johannes Suckow [1896-1994]); 2) »Spezielle Indikation von Insulin-und Schocktherapie bei verschiedenen psychischen Erkrankungszuständen« (Suckow); 3) »experimentelle Erfahrungen über die Unterschiede von provoziertem und Spontankrampf« (Ernst Adolf Schmorl [1906-1964]); 4) »Wasserstoffversuch bei Krampfkranken einschließlich Idioten« (Schmorl); 5) »Konstitutionstypen der exogenen Krampferkrankungen einschließlich der Hirnverletzten des Krieges« (Friedrich-Georg Schmieder »Materialsammlung über die endokrinen Funktionsstörungen im Rahmen entwicklungsmäßig bedingter körperlicher Dysplasien, insbesondere an Hand der S. 1-16; dies., »Euthanasie«-Arzt oder Forscher mit weißer Weste? -Der Psychiater Johannes Suckow (1896-1994) und seine Tätigkeit in der Forschungsabteilung in der Heil-und Pflegeanstalt Wiesloch 1942/43 Concertino. Ensemble aus Kultur-und Medizingeschichte. Festschrift zum 65. Geburtstag von Prof. Dr. Gerhard Aumüller Personenlexikon, S. 114-117. Der NSDAP trat Deussen im März 1933 bei. Von 1933 bis 1935 gehörte er zudem der SA an, zeitweise als politischer Ausbilder und Pressereferent. 1937 wurde er Ortsgruppenschulungsleiter der Partei Käthe Hell führte in der Genealogisch-Demographischen Abteilung der Deutschen Forschungsanstalt für Psychiatrie als Stipendiatin des Reichsführers-SS körperliche und psychiatrische Untersuchungen an »Anstalts-Schwachsinnigen-Zwillingen« durch. 1941 übernahm sie die »psychiatrische Betreuung« der Zöglinge des Jugenderziehungsheimes Indersdorf bei Dachau und die »psychiatrische Beurteilung« der Korrigendinnen des Arbeitshauses für Frauen in Bischofsried am Ammersee -beide Einrichtungen unterstanden dem Landesverband für Wander-und Heimatdienst Bayerns -hier ging es darum, zu untersuchen, inwieweit »Prostitution, Arbeitsscheu, Asozialität usw.« dieser Frauen »aus ihrem Wesen heraus erklärbar« seien hier: S. 793; XXII. Bericht über die Deutsche Forschungsanstalt für Psychiatrie im Mai 1944 verfassten Lebenslauf Deussens, zit. nach: Roelcke Aus dem Lebenslauf Deussens vom Mai 1944, zit. nach: ebd Rüdin war schon im November 1943 über die Abordnung Deussens nach Heidelberg im Bilde. Roelcke, Wissenschaft, S. 140, Anm. 84 Zum Folgenden ausführlich: Faulstich, Irrenfürsorge Zitat: S. 163. Die Rezension bezieht sich auf: Hellmuth Unger, Sendung und Gewissen Hervorhebung im Original) Antisemitisch Verfolgte registriert in Bielefeld 1933-45. Eine Dokumentation jüdischer Einzelschicksale Dichterarzt und ärztlicher Pressepolitiker in der Weimarer Republik und im Nationalsozialismus Bewerbungsschreiben Jaspersens, 24.6.1929, HAB Sar.1, 545a. Auch zit Es ist zwar richtig, dass Jaspersen nach 1933 keine Parteikarriere machte (ebd., S. 45), 1934 aufgrund von Querelen mit dem Kreisleiter mit einem Parteiausschlussverfahren zu kämpfen hatte (ebd., S. 46 f.) und in den Auseinandersetzungen zwischen Friedrich v. Bodelschwingh und der Partei loyal zum Anstaltsleiter stand, dennoch wird man im Falle Jaspersens nicht von einer rein nominellen Mitgliedschaft ausgehen können Zwangsverpflichtet. Kriegsgefangene und zivile Zwangsarbeiter(-innen) in Bethel und Lobetal HAB 2/33-670. Auch zit Die Angabe von Peters, es sei »im einzelnen nicht nachzuvollziehen«, inwieweit der »Verantwortungsbereich Jaspersens« von den Sterilisierungen im Rahmen des »Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses« betroffen war (Peters, Karsten Jaspersen Jaspersens Kampf; Hochmuth, Spurensuche, 76 f., 96 f.; Schmuhl, Ärzte in Bethel, S. 45 f.; ders., Ärzte in Sarepta, S. 84 f.; Peters, Karsten Jaspersen Da es hier nicht um die Konfrontation der v. Bodelschwinghschen Anstalten Bethel mit der »Euthanasie« geht, sei auf die reiche Literatur verwiesen Zu Recht weist Peters darauf hin, dass dies eine »Schmeichelei« war Bis endlich der langersehnte Umschwung kam …« -Anmerkungen zur Rolle des Marburger Psychiaters Werner Villinger in der NS-und Nachkriegszeit 80-86; ders., Zwischen vorauseilendem Gehorsam und halbherziger Verweigerung An gleicher Stelle kündigte Nitsche einen Telephonanruf bei Heyde am nächsten Tag an. Rüdin hatte den Zuschuss von 10.000 Reichsmark und seinen Dank an Reichsleiter Bouhler beiläufig auch in einem Schreiben an Werner Heyde vom 19. Juli 1941 erwähnt. Der Umstand, dass Rüdin dies nicht weiter erläuterte, spricht dafür, dass ihm die Rolle Heydes als ärztlicher Leiter der »Reichsarbeitsgemeinschaft Heil-und Pflegeanstalten« wohl bewusst war Comp. 17, Bl. 124939-124940, Zitat: Bl. 124939. Danach auch das folgende Zitat Comp. 17, Bl. 124939-124940, Zitat: Bl. 124939. Danach auch das folgende Zitat die Reichsleiter des Amtes für Volksgesundheit und des Rassenhygienischen Amtes, die Sanitätsinspektionen der Luftwaffe, des Heeres und der Marine, den Chef des Sanitätsamtes der Waffen-SS, den Reichsarzt-SS, die zuständigen Beamten des Reichsinnenministeriums, des bayerischen und der übrigen Länderinnenministerien einzuladen. Die Liste der vom Vorsitzenden der Gesellschaft Deutscher Neurologen und Psychiater persönlich einzuladenden Abteilung IV (Gesundheitswesen und Volkspflege) im Reichsministerium des Innern Abteilung IV (Gesundheitswesen und Volkspflege) im Reichsministerium des Innern Leiter des Gauamts für Volksgesundheit Gauobmann des NSDÄB 4 Regierungspräsident Inspekteur des Sanitätswesens der Luftwaffe Nitsche gab Creutz den -recht bestimmten -Rat, in Würzburg von der Erhebung einer Kongressgebühr für Teilnehmer, die keine Mitglieder der Gesellschaft Deutscher Neurologen und Psychiater waren, abzusehen. Er hege, so führte Nitsche zur Begründung an, »bei den bestehenden Reiseschwierigkeiten, bei der Schwerabkömmlichkeit der meisten Kollegen usw.« die Befürchtung, »ob die Frequenz befriedigend wird«; deshalb »sollte man nicht durch eine solche Gebühr die Teilnahmelust gefährden.« 331 Eine gewisse Unsicherheit herrschte unter den Organisatoren, ob man zur Sechsten Jahresversammlung der Gesellschaft Deutscher Neurologen und Psychiater auch Ausländer einladen sollte Comp. 17, Bl. 125835. Danach auch die folgende Aufstellung Mit einem Fragezeichen versehen Comp. 17, Bl. 124964-124965, Zitate: Bl. 124964. Nitsche fügte hinzu: »An sich bin ich vollständig für künftige Beibehaltung der Einrichtung. Sie ist auf mein Betreiben eingeführt worden, wir haben die Kongresskosten dadurch vermindert und sicher auch einen Anreiz zum Beitritt geschaffen Nitsche an Creutz, 21.5.1941, NAW, Record Group 549 BArch. R 96 I/11 Comp. 17, Bl. 124946-124948, hier: Bl. 124947: »Herr Nitsche wird Ihnen aber wohl sagen, was er (mit) Herrn Creutz bezüglich der Arbeitsteilung für die Vorbereitungen zwischen Creutz und Nitsche abgemacht hat Comp. 17, Bl. 124966-124967, Zitat: Bl. 124967. Danach auch das folgende Zitat Freundliche Auskunft von Klaus Schepker Die Universitätspsychiatrie war unter den Ehrengästen vertreten durch den Hausherrn Otto Pötzl -die Veranstaltung fand im Großen Hörsaal der Neurologisch-Psychiatrischen Universitätsklinik Wien statt -und den sterbenskranken Julius v. Wagner-Jauregg, der das »Protektorat« über die Veranstaltung übernommen hatte Bericht 1. Tagung der Deutschen Gesellschaft für Kinderpsychiatrie, S. 10. Danach auch die folgenden Zitate Danach auch das folgende Zitat Hilfsschullehrer und Schriftleiter der Zeitschrift »Die deutsche Sonderschule« in seinem Referat ausführte, werde dieses Fachgebiet im nationalsozialistischen Staat als »völkische Sonderpädagogik« aufgezogen. Anon., Bericht 1. Tagung der Deutschen Gesellschaft für Kinderpsychiatrie, S. 76-87. Zu Tornow grundlegend: Dagmar Hänsel Danach auch die folgenden Zitate. -Zur Differenzierung der Fürsorgeerziehungsanstalten nach diesen Gesichtspunkten in der Provinz Hannover ab 1942 vgl Rheinprovinz halten sollen -doch war er in der Folge seiner Einberufung zur Wehrmacht verhindert und musste sich durch Hans Aloys Schmitz vertreten lassen. 375 Am Ende gab es noch nicht einmal eine Grußadresse der Gesellschaft Deutscher Neurologen und Psychiater Dagegen machte die psychotherapeutische Fachgesellschaft, wie das Programm ihrer Tagung am September 1940 erkennen lässt, der neu gegründeten Fachgesellschaft für Kinderpsychiatrie und Heilpädagogik ganz unverhohlene Avancen: Die am ersten Tag der Psychotherapeutentagung gehaltenen Vorträge betrafen nämlich Erziehungsfragen des Kindes-und Jugendalters Die Erziehung des Kleinkindes im Hinblick auf seine Lebensaufgabe Die Erziehung des Schulkindes im Hinblick auf seine Lebensaufgabe Juni 1941 völlig unerwartet an einer Lungenembolie als Folge einer Operation 382 -eröffnete sich sogar die Perspektive, die neue Gesellschaft zu vereinnahmen. Hier prallten die Interessen der Psychotherapeuten und der Psychiater aufeinander. Rüdin hatte von Anfang an versucht, die neue Fachgesellschaft für Kinderpsychiatrie und Heilpädagogik an die Gesellschaft Deutscher Neurologen und Psychiater anzubinden. Am 24. Februar 1941 hatte er sich -in Absprache mit Linden -mit Vorschlägen zur »Heranziehung der Deutschen Gesellschaft für Kinderpsychiatrie an die Gesellschaft Deutscher Neurologen und Psychiater« 383 an Schröder gewandt. Dieses Schreiben ließ Schröder zunächst unbeantwortet, wenngleich er selbst in einem Schreiben vom 29. Januar 1941 den Gedanken geäußert hatte, die zweite Tagung der Deutschen Gesellschaft für Kinderpsychiatrie und Heilpädagogik örtlich und zeitlich mit der nächsten Das neue Forschungsprojekt zur Vor-und Gründungsgeschichte der Deutschen Gesellschaft für Kinderpsychiatrie und Heilpädagogik arbeitet auch heraus, dass es von Seiten des Reichsgesundheitsamtes gern gesehen worden wäre, wenn sich die Gesellschaft für Kinderpsychiatrie und Heilpädagogik enger mit der Deutschen Gesellschaft für Kinderheilkunde zusammengeschlossen hätte Thumb habilitierte sich 1941 an der Universität Wien im Fach Psychologie. Für die NSV begutachtete er erziehungsschwierige Kinder. Auch wandte er psychotechnische Methoden zur »Grobauslese« ausländischer Zwangsarbeitskräfte in Wiener Industriebetrieben an. Vgl. Geschichte der Fakultät für Psychologie der Bundes republik Deutschland engagierte er sich als Leiter des Jugendamtes München in der Sexualaufklärung. Hugo Maier (Hg.), Who is Who der sozialen Arbeit Hans March arbeitete als Nervenarzt in eine Schülerin Harald Schulz-Henckes, arbeitete als Behandelnde Psychologin in der Abteilung Erziehungshilfe des Berliner Instituts für Psychologische Forschung und Psychotherapie, seit 1940 war sie Dozentin und Lehranalytikerin des Instituts. Vgl. Regine Lockot, Reinigung der Psychoanalyse Adolf Weizsäcker arbeitete ebenfalls als Behandelnder Psychologe am Berliner Institut. Tagungsbericht: Rudolf Bilz, Psyche und Leistung. Bericht über die 3. Tagung der Deutschen allgemeinen Ärztlichen Gesellschaft für Psychotherapie in Wien am 6. und 7 Danach auch die folgenden Zitate. -Das Schreiben Rüdins an Schröder vom 24. Februar 1941 selbst ist leider nicht überliefert, ebenso wenig wie das Schreiben Schröders an Rüdin vom 29 S. 218 (24.5.1941), hatte man Zeit und Ort der Tagung noch offen gelassen Comp. 17, Bl. 124912-124913, Zitat: Bl. 124912. Danach auch die folgenden Zitate Pädagogik der Abgrenzung. Die Implementierung der Rassenhygiene im Nationalsozialismus durch die Sonderpädagogik Februar 1941 mit, dass er Schröder geraten habe, ihn als »erbbiologischen Referenten« einzuladen, und bat den Regierungsrat im Reichsgesundheitsamt, die Einladung Schröders anzunehmen. Zur Begründung führte Rüdin an: »Wir müssen gerade an die Kinderpsychiatrie einen sehr ernsten und strengen erbbiologischen und rassenhygienischen Maßstab anlegen und ich vertraue in dieser Hinsicht ganz auf Sie. Die Gesellschaft darf nicht bloß heilpädagogisch aufgezogen werden, sonst bekommen wir unsere Erbminderwertigen nie los Danach auch die folgenden Zitate (Hervorhebung im Original). Rüdin paraphrasiert hier ein Schreiben Reiters vom 16 Comp. 17, Bl. 124906-124907, Zitat: Bl. 124906. Danach auch die folgenden Zitate Zu den Problemen bei der Berufung Villingers nach Breslau: Holtkamp Dies widerspricht der Darstellung von Forsbach, Medizinische Fakultät, S. 217, dass Schmitz »den Ansichten Ernst Rüdins zu Erbbiologie und ›Euthanasie‹ eher fern« gestanden habe Comp. 17, Bl. 124939-124940, Zitat: Bl. 124940. Danach auch die folgenden Zitate Comp. 17, Bl. 124942-124943, Zitat: Bl. 124942. Danach auch das folgende Zitat Comp. 17, Bl. 124951-124953, Zitat: Bl. 124953. Danach auch die folgenden Zitate Comp. 17, Bl. 124968-124669. Danach auch die folgenden Zitate Sorgenkinder in der Wehrmachtspsychologie Die Entwicklung der Wehrpsychologie in Deutschland von 1914-1945 und über die Entwicklung geführte Auseinandersetzung in der Nachkriegszeit Abschrift an Nitsche), 21.11.1941, NAW, Record Group 549 Ein Beitrag zur Institutsgeschichte der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft und zur Geschichte der architektonischen Hirn forschung Die Geschichte der genetisch orientierten Hirnforschung von Cécile und Oskar Vogt (1875-1962, 1870-1959) in der Zeit von 1895 bis ca Rassenforschung an Kaiser-Wilhelm-Instituten vor und nach 1933 Dazu ausführlich: Schmuhl, Hirnforschung, S. 569-582 Von den Zielen des KWI für Hirnforschung Das Reservelazarett 127 wurde im August 1939 in der Forschungsklinik eingerichtet. Im Oktober 1941 musste es dem Reservelazarett 133 weichen und zog in das »Waldhaus« in Buch um, eine frühere Einrichtung für Lungenkranke. Bei Kriegsende befand sich das Reservelazarett 127 in Schleswig-Stadtfeld Kopie in AMPG, II. Abt., Rep. 1 A, PA Hallervorden, 5). Vgl. allg. Übersicht zum offiziellen Jahresbericht Aus dem Gebiet der Gehirnpathologie mit besonderer Berücksichtigung der Luftwaffenbelange Gründen entlassen wurde, in die USA emigrierte und nach dem Zweiten Weltkrieg im Auftrag der amerikanischen Militärbehörden den Stand der Hirnforschung im nationalsozialistischen Deutschland untersuchte. Die Erkenntnisse Alexanders gingen in den Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher vor dem Internationalen Militärgerichtshof in Nürnberg ein. Im Nürnberger Ärzteprozess spielte Alexander eine bedeutende Rolle -auf ihn geht der Nürnberger Kodex für medizinische Versuche am Menschen zurück. Vgl. Ulf Schmidt, Justice at Nuremberg. Leo Alexander and the Nazi Doctor's Trial Als dritter militärischer Komplex trat 1941/42 die »Forschungsstelle für Hirn-, Rückenmarkund Nervenverletzte« unter der Leitung von Wilhelm Tönnis hinzu, 426 der als Beratender Neurochirurg beim Inspekteur des Sanitätswesens der Luftwaffe (ab 1943: der Wehrmacht) fungierte Von Tönnis war auch die Initiative zur Einrichtung dieser Sonderstelle ausgegangen, wobei er offenbar in Konkurrenz zu Viktor v. Weizsäcker trat, dem das Sonderlazarett für Hirnverletzte in Breslau unterstand Forschungsstelle für Hirn-, Rückenmark-und Nervenverletzte« 428 umfasste ein Archiv mit den Krankengeschichten, Röntgenbildern und Photos sämtlicher Patienten Hier wurde ein Lehrfilm über die »operative Behandlung von Hirnverletzten im Frontbereich« produziert, der allen Chirurgen der Wehrmacht vorgeführt wurde. Filmisch dokumentiert wurden zudem durch Hirnverletzungen hervorgerufene Orientierungs Kopie in AMPG, II. Abt., Rep. 1 A, PA Hallervorden, 5. Eine Ausnahme bildeten die Fälle, die auf Sauerstoffunterversorgung zurückzuführen waren, die an das Institut für Luftfahrtpathologie unter Franz Büchner (1895-1991) in Freiburg gingen. Zu seiner Rolle in der »Euthanasie« vgl. Karl-Heinz Leven, Der Freiburger Pathologe Franz Büchner 1941 -Widerstand mit und ohne Hippokrates heißt es: »Die Auswertung der pathologischen Präparate wird aus Gründen der Materialaufbereitung etwa ein halbes Jahr dauern, obwohl uns hierzu, wie ich hoffe, das Kaiser-Wilhelm-Institut für Hirnforschung helfen wird«. (Rascher an Himmler, 11.5.1942, BArch. Berlin, NS 19/1580) Oberbefehlshaber der Luftwaffe/Chef der Luftwehr L Oberbefehlshaber der Luftwaffe, Chef der Luftwehr, L.In. 14, 28.4.1942; Tönnis, Bericht über die Organisation zur Versorgung von Hirn Die folgenden Angaben zum Aufbau der Forschungsstelle in: Tönnis, Bericht über die Organisation zur Versorgung von Hirn-, Rückenmark-und Nervenverletzten, 4.8.1945, AMPG, II. Abt., Rep. 20 B, 119. Dieser Text ist eingegangen in: Wilhelm Tönnis/Johannes Seiler, Erfahrungen in der Versorgung und Nachbehandlung von Schädel-Hirn-Verletzungen des Zweiten Weltkriegs Neben einem Lehrfilm über die operative Behandlung von Hirnverletzten im Frontbereich nahm Pittrich Filme über Sprach-, Denk-, Seh-und Orientierungsstörungen bei Hirnverletzten auf. Insgesamt sollen in der Forschungsstelle 430 Filme entstanden sein, die nach dem Zweiten Weltkrieg z.T. vom Institut für Film und Bild in Wissenschaft und Unterricht übernommen wurden Dazu grundlegend: Cornelius Borck, Hirnströme. Eine Kulturgeschichte der Elektroenzephalographie Bericht über die Organisation zur Versorgung von Hirn Aufgaben der Hirnverletzten-Lazarette«, 10.10.1942, Bl. 11, AMPG, II. Abt., Rep. 20 B 3.1944; Tönnis, Bericht über die Organisation zur Versorgung von Hirn-, Rückenmark-und Nervenverletzten, 4.8.1945, AMPG, II. Abt., Rep. 20 B, 119; Tönnis, Operative Versorgung der Hirnschüsse, Referat, gehalten in Stockholm im Oktober Halbjahresbericht an die Ärztliche Akademie der Luftwaffe Regierungsoberinspektor Feld, Kurzer Bericht über die Entstehung des Luftwaffenlazaretts Berlin; Aufbau der Krankenabteilungen für Hirn-, Rückenmark-und Nervenverletzungen des Lw.-Laz.-Berlin, undatiert (1942), AMPG, II. Abt., Rep. 20 B, 119. Vgl. auch: Tönnis, Jahre, S Am Ende des Krieges war dieses Lazarett in Hamburg-Blankenese stationiert; es unterhielt eine Nachbehandlungsabteilung in Wittingen nahe Hannover. Ein kleines Fachlazarett zur Nachbehandlung für Hirn-, Rückenmark-und Nervenverletzte bestand in Wien. Es wurde 1944 mit dem Lazarett in Bad Ischl vereinigt Therapie der Psychosen« und der Sektion »Kriegserfahrungen bei Verletzungen des Gehirns«. Aufgrund eines Vorschlags von Paul Nitsche vom 25. Juli 1941 entschied man sich um zugunsten der Reihenfolge »Kriegserfahrungen bei Verletzungen des Gehirns«, »Suggestion und Training«, »Therapie der Psychosen«. Die Umstellung stand im Zusammenhang mit einer Verlegung der zweiten Tagung der Deutschen Gesellschaft für Kinderpsychiatrie und Heilpädagogik 444 Die Indikationsstellung bei operativer Entfernung intrazerebraler Geschosssplitter Münster, 445 Gefäßbedingte Schädigungen bei den offenen Hirnverletzungen Die Meningitis und ihre Bedeutung bei den offenen Gehirnverletzungen Wenzel-Hancke-Krankenhaus Breslau, 450 Die Spätversorgung der Hirnverletzten (unter besonderer Berücksichtigung der Sulfonamidbehandlung Frankfurt/Main/[Film-und Bildstelle der Forschungsstelle für Hirn-, Rückenmark-und Nervenverletzte Arist Stender arbeitete von 1935 bis 1941 bei Otfrid Foerster in Breslau, seit 1939 als Leitender Arzt der Abteilung für Neurologie und Neurochirurgie am Wenzel-Hancke-Krankenhaus. Ab 1946 baute er eine neurochirurgische Abteilung am Krankenhaus Berlin-Westend auf, 1951 wurde er Ordinarius für Neurologie und Neurochirurgie an der Freien Universität Berlin Fischer arbeitete seit 1932 als Assistent an der Chirurgischen Universitätsklinik in Münster. Von 1935 bis 1938 war er Schüler von Wilhelm Tönnis in Würzburg und Berlin und kehrte dann nach Münster zurück. 1944 änderte er seinen Familiennamen in Fischer-Brügge um Ab 1947 baute er eine neurochirurgische Station in den Bereichen Chirurgie und Neurologie der Universität Innsbruck auf, ab 1952 arbeitete er in Florenz der chirurgischen Abteilung des Krankenhauses Berlin-Westend, ehe er 1939 die Leitung des Chirurgischen Heeres-Lazaretts in Berlin-Buch übernahm. Ab 1949 am Krankenhaus in Bückeburg tätig Georg Friedrich Häussler war von 1935 bis 1938 Schüler von Wilhelm Tönnis in Würzburg und Berlin. Von 1938 bis 1945 arbeitete er am Aufbau einer neurochirurgischen Abteilung in der Neurologischen Universitätsklinik Hamburg-Eppendorf unter Heinrich Pette mit. Ab 1947 war er als Chefarzt der neurochirurgischen Abteilung im Allgemeinen Krankenhaus Hamburg-Heidberg tätig Friedrich Wilhelm Kroll wurde 1949 als Leitender Arzt der neurochirurgischen Abteilung in Hiddesen bei Detmold tätig Seit 1947 baute er eine neurochirurgische Abteilung in der Chirurgischen Klinik der Medizinischen Akademie Düsseldorf auf, 1959 wurde er Direktor der nunmehr selbstständigen Neurochirurgischen Klinik Ab 1939 arbeitete er bei Tönnis in der Forschungsstelle im Luftwaffen-Rehabilitations-Lazarett Berlin-Reinickendorf. Frowein/ Dietz/Franz, Namensglossar, S. 454; Ulf Schmidt, Medical Films, Ethics and Euthanasia in Nazi Germany. The History of Medical Research and Teaching Films of the Reich Office for Educational Films/Reich Institute for Films in Science and Education Zur Differentialdiagnose bei Spätfolgen von Hirnschädigungen Kaiser-Wilhelm-Institut für Hirnforschung Berlin-Buch, Die Ursachen der Hirndrucksteigerung mit besonderer Berücksichtigung des Prolapses bei den offenen Gehirnverletzungen Psychiatrische und Nervenklinik der Charité Über die Ursache der posttraumatischen Erniedrigung des Schädelinnendruckes Hyperpathie und zentrale Schmerzen bei Gehirnverletzten 455 Über den Heilverlauf experimenteller Hirnwunden bei verlegter und bei offener Knochenlücke arbeitete seit 1931 an der Psychiatrischen und Nervenklinik Jena, wo er 1935 -nach seiner Habilitation mit einer Schrift über »Untersuchungen über die soziale Prognose der Schizophrenie unter besonderer Berücksichtigung des encephalographischen Befundes« -zum Oberarzt ernannt wurde Psychiater und Zeitgeist. Zur Geschichte der Psychiatrie in Berlin Franz Johann Irsigler war Oberarzt bei Wilhelm Tönnis an der Hansaklinik in Berlin, nach deren Zerstörung 1942 im Ludwig-Hoffmann-Hospital in Berlin-Buch. Er wanderte später nach Transvaal aus. Frowein/Dietz/Franz, Namensglossar, S. 442. Sein Referat wurde veröffentlicht: F.J. Irsigler, Über den Heilverlauf experimenteller Hirnwunden bei offener und verlegter Knochenlücke 1 A, 1598. Nach Angaben Büchners war Peters 1943 an Untersuchungen »am Gehirn von Unterkühlungstodesfällen wie am Tier nach akutem und chronischem Unterkühlungsexperiment« beteiligt Nach seiner Promotion 1936 wechselte er als Rockefeller-Stipendiat zur Medizinischen Universitätsklinik Würzburg zu Georges Schaltenbrand, 1937 dann zu Wilhelm Tönnis an das Kaiser-Wilhelm-Institut für Hirnforschung und das Hansa-Krankenhaus nach Berlin. 1939 wurde er als Truppenarzt eingezogen, 1941/42 war er an das Fachlazarett für Hirn-, Rückenmark-und Nervenverletzungen nach Berlin-Reinickendorf abkommandiert. Von 1943 bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs arbeitete er schließlich als Abteilungsarzt des Hirnverletzten-Lazaretts in Breslau-Branitz unter Viktor v. Weizsäcker. 1948 schließlich wurde er Gastassistent an der Neurologischen Universitätsklinik Hamburg bei Heinrich Pette. AMPG I, 1A, 1582, 1598; Peiffer, Hirnforschung, S. 1126 Skript »Vorbereitung der Tagung«, undatiert [vor der Vierten Jahresversammlung der Gesellschaft Deutscher Neurologen und Psychiater Wehrmachtsteilen ausdrücklich zur Veröffentlichung freigegeben werden -Heinrich Pette kümmerte sich darum Oktober 1941, stand unter dem Oberthema mittlerweile Direktor der Heil-und Pflegeanstalt Bernburg/Saale, die teilweise als Vergasungsstätte im Rahmen der »Aktion T4« genutzt wurde, 462 mit einem Referat über »Die Heilanzeigen und Erfolgsaussichten bei der Behandlung endogener Psychosen« vorgesehen. Von Schneiders Referat sind die »Schlussbemerkungen« erhalten, die unter der Überschrift »Wissenschaftliche, wirtschaftliche und soziale Bedeutung und Zukunft der psychiatrischen Therapien« standen -dazu gleich mehr. Interessant ist, dass sowohl die Referate der beiden Berichterstatter -beide tief in die »Euthanasie« verstrickt -als auch die sich anschließenden Kurzvorträge den Fokus auf die Fortschritte der Therapie der endogenen Psychosen legten. Die meisten der Beiträge behandelten die ersten Erfahrungen Über die Elektrokrampfbehandlung in der Psychiatrie Die Veränderungen der Stoffwechsellage nach Insulin-, Cardiazolund unspezifischer Fieberbehandlung im Verlauf der schizophrenen Erkrankung Remscheid-Lüttringhausen, Über die Veränderungen des Liquors nach Cardiazolund Azomananfällen sowie Insulinschock Die Behandlung der akuten Katatonie mit großen Flüssigkeitsgaben Zur Frage der Mindereinschätzung der psychiatrischen Therapie in der Krankenversicherung Über Transitivismus, ein Beispiel »ästimierender« Untersuchung und Behandlung der Schizophrenie Behandlung von Schlafstörungen mit Insulin Über den derzeitigen Stand der Dauernarkose-Behandlung der Schizophrenie Zu seiner Rolle in der »Aktion T4« vgl. Dietmar Schulze, »Euthanasie« in Bernburg. Die Landes-Heil-und Pflegeanstalt/ Anhaltische Nervenklinik in der Zeit des Nationalsozialismus Prof. Dr. med. Willi Enke -»deutsch, evangelisch, arischer Abstammung« Vorschlag zur Gründung einer Forschungsanstalt für aktive Therapie der Nerven-und Geisteskrankheiten«, BArch. R 96 I/9 -1964) an der Universitätsklinik in Rom erstmals erprobten Elektrokrampftherapie war die Gesellschaft Deutscher Neurologen und Psychiater von Anfang an bemüht, den Anschluss an die internationale Entwicklung nicht zu verpassen. Bemerkenswert erscheint, dass mit Max Müller und Jakob Klaesi zwei prominente Schweizer Psychiater, die bei der Etablierung der neuen Somatotherapien eine wichtige Rolle spielten, für Würzburg hatten gewonnen werden können. 465 Das Interesse an den neuen Therapien, namentlich der Elektrokrampftherapie, stand keineswegs im Gegensatz zur »Euthanasie«-Aktion. Schließlich war es der bürokratische Apparat zur Organisation des Massenmords an geistig behinderten und psychisch erkrankten Menschen, der unter den Bedingungen der Kriegswirtschaft im Jahre 1942 dafür sorgte Als Berichterstatter waren Ernst Kretschmer mit einem Referat über »Wissenschaftliche Grundlagen und Methoden« und J.H. Schultz mit einem Referat über »Spezielle Psychologie und Technik des autogenen Trainings« vorgesehen Therapeutische Hinweise aus charakterologischen Testuntersuchungen bei schizophrenen Grenzfällen Mit Rittmeister stand sogar ein Arzt auf dem Programm, der -wie sich wenig später herausstellen sollte -als einer von ganz wenigen seiner Kollegen politischen Widerstand gegen das nationalsozialistische Regime leistete: Er gehörte der »Roten Kapelle« an, wurde 1942 verhaftet und 1943 hingerichtet. Der Themenschwerpunkt unterstreicht nachdrücklich den Anspruch der Psychiatrie auf das Gebiet der Psychotherapie. Übrigens verzichtete man auf Vorschlag Nitsches im Würzburger Tagungsprogramm ganz bewusst darauf Schriftenreihe der Deutschen Gesellschaft für Geschichte der Nervenheilkunde Sigusch/Grau (Hg.), Personenlexikon, S Insulinzentrum; zu Jakob Klaesis »Dauerschlafbehandlung« und ihren internationalen Auswirkungen: Pamela Michael, Prolonged Narcosis Therapy during the Inter-War Years Dazu: Sascha Lang, Psychiatrie, technische Innovation und Industrie. Die Siemens-Reiniger-Werke und die Entwicklung des Elektrokrampftherapiegerätes »Konvulsator« im Zweiten Weltkrieg Aus dem vorläufigen gedruckten Programm, NAW, Record Group 549 Die Sechste Jahresversammlung der Gesellschaft Deutscher Neurologen und Psychiater »um die unbedingte Präponderanz der Psychiatrie in psycho-therapeutischen Fragen zu betonen.« 468 Dies scheine ihm, so Nitsche, für die weitere Entwicklung der Im Restprogramm des dritten Tages fallen schließlich mehrere Beiträge ins Auge, die dem Gebiet der Wehrpsychiatrie zugeordnet werden können Über einige wehrpsychiatrisch-psychologische Fragen Über Schäden des Nervensystems bei Fliegerangriffen um eine Abteilung für Wehrpsychiatrie inner halb der Gesellschaft Deutscher Neurologen und Psychiater aufzubauen. Dass Wuth, ebenso wie sein Stellvertreter Christukat, einen Vortrag zusagte, belegt, dass er dem Plan Nitsches aufgeschlossen gegenüberstand Vor einer Kopernikanischen Wende? Carl Schneiders Vision einer Psychiatrie der Zukunft Das Dokument ist in der Forschung durchaus bekannt, aber in seiner Tiefe und Weite bis heute nicht hinreichend ausgelotet. Tatsächlich handelt es sich um ein Schlüsseldokument der Psychiatriegeschichte -es sei daher an dieser Stelle ebenso wie sein Autor noch einmal ausführlicher vorgestellt Comp. 17. Bl. 124951-124953 Bemerkungen zur Behandlung der Homosexualität, Dr. Erwin Schröter, Deutsche Forschungsanstalt für Psychiatrie München, Probleme bei der erbbiologischen Beurteilung unehelicher Kinder, und Loebe Row 59, Comp. 17, Bl. 124964-124965, Zitat: Bl. 124965: »Bei Herrn Rüdin habe ich angeregt, auch die Wehrpsychiatrie in unserer Gesellschaft zu verankern, wie die psych.[ische] Hygiene, die Psychotherapie etc.«. Zu dieser Zeit hatte Nitsche ein Treffen mit Wuth, bei dem »verschiedene wehrpsychiatrische Fragen« besprochen wurden Genialer Therapeut, moderner ökologischer Systemtheoretiker und Euthanasiemörder Krankenmord im Dienst des Fortschritts? Der Heidelberger Psychiater Carl Schneider als Gehirnforscher und »therapeutischer Idealist« Schmuhl/Roelcke (Hg.), »Heroische Therapien« »dem für lange Zeit maßgeblichen Referenzwerk zur Thematik«, gehörte Carl Schneider, damals noch Chefarzt in Bethel, »aufgrund seiner innovativen Arbeiten« zu den meistzitierten Autoren nach Emil Kraepelin und Eugen Bleuler wirtschaftliche und soziale Bedeutung und Zukunft der psychiatrischen Therapien, BArch., R 96/I. Danach auch alle folgenden Zitate. -Auch diskutiert in: Aly, Belasteten »Euthanasie« und die aktuelle Sterbehilfe-Debatte. Die historischen Hintergründe medizinischer Ethik Comp. 17, Bl. 127483-127485, Zitat: Bl. 127483. Danach auch das folgende Zitat Jennerwein zur Besprechung mit Herrn Professor Dr. Brandt«, 29.11.1941, NAW, Record Group 549 Comp. 17, Bl. 127489-127490, Zitat: Bl. 127489 (in runden Klammern: handschriftliche Ergänzung). Danach auch das folgende Zitat Comp. 17, Bl. 127498. Danach auch die folgenden Zitate Zum Folgenden: Schmuhl, Rassenhygiene, S. 275 f.; Gerrens, Ethos Das Ende von Strecknitz. Die Lübecker Heilanstalt und ihre Auflösung 1941. Ein Beitrag zur Sozialgeschichte der Psychiatrie im Nationalsozialismus Hier bedauerte Bresler, dass die Wirtschaftsberichte der Anstalten kaum noch veröffentlicht würden, zeigten sie doch, »dass hier eine aktive hohe Kultur und volkswichtige Arbeit herrscht, nicht bloß ein Drum und Dran für einen Haufen uns volksfremder, gleichgültiger Menschen Autor war niemand anderes als der greise Georg Ilberg, Mitstreiter Bonhoeffers in den Jahren 1933/34 im Kampf um den Vorsitz des Deutschen Vereins für Psychiatrie. Ilberg also paraphrasierte den Text Enges folgendermaßen: »Wenn man heutzutage die Psychiatrie […] keineswegs selten für minderwertig und entbehrlich ansieht, ja die Erbkranken und mit ihnen oft die Geisteskranken überhaupt herabwürdigt, ja für die Vernichtung schwerer Fälle eintritt -natürlich soweit es sich nicht um Erkrankungen in der eigenen Familie handelt! -, so ist das ein großes Unrecht.« 487 Herbert Linden, der von dem T4-»Gutachter« Berthold Kihn 488 auf diese Rezension aufmerksam gemacht wurde, schäumte vor Wut. »Wer ist denn der Schriftleiter«, fragte er am 20 dass in der Rezension eine staatliche Maßnahme angegriffen werde, »die heute von zahlreichen verantwortungsbewussten Menschen aus ethisch hochwertigen Gründen befürwortet und auch, wie z.B. der Erfolg des Filmes ›Ich klage an‹ lehrt, von weiten Kreisen des deutschen Volkes eindeutig gebilligt« 491 werde, und dass die Kritik abgedruckt worden sei, »obwohl in der Tatsache der Zulassung des Filmes und seiner Bewertung durch das Reichspropaganda-Ministerium eine positive staatliche Stellungnahme zu dem Problem erkennbar geworden ist« Enge, Die Zukunft der Psychiatrie Er war schon in der ausgehenden Weimarer Republik als Befürworter der »Vernichtung lebensunwerten Lebens« hervorgetreten. Berthold Kihn, Die Ausschaltung der Minderwertigen aus der Gesellschaft Danach auch die folgenden Zitate. -Ob auch noch eine Beschwerde an Georg Ilberg erging, muss dahingestellt bleiben. Er starb am 11 das Exposé eines Dokumentarfilms vor, der die Möglichkeiten und Grenzen der modernen Psychiatrie ebenso zeigen sollte wie den Ablauf der »Aktion T4« bis hin zur Vergasung. Tatsächlich fanden im Oktober/November 1940 Dreharbeiten zu diesem Filmprojekt statt -es wurde sogar eine Vergasung in der »Tötungsanstalt« Sonnenstein gefilmt. Im Dezember 1940 kam das Projekt jedoch zum Erliegen, in der Bevölkerung hatte sich so viel Unruhe bemerkbar gemacht, dass die drastische Darstellung des Vernichtungsprogramms nicht länger opportun erschien. Stattdessen entstand der Spielfilm »Ich klage an«, der am 29 es habe sich ein Kollege mit der Anregung an ihn gewandt, die Gesellschaft Deutscher Neurologen und Psychiater möge veranlassen, dass die Diagnose Multiple Sklerose aus dem Film gestrichen werde. Rüdin gab die Anregung an Nitsche weiter, obwohl er sie nicht unterstützte. Seine eigenen Eindrücke schilderte Rüdin folgendermaßen: »Ich selbst war in dem Film und fand ihn ergreifend. Allerdings waren die Stimmen, die ich vom anwesenden Publikum aufschnappte, nicht zustimmend. Von einer Frau in meinem Rücken hörte ich, das ist ein Propagandafilm für etwas, was eine schon beschlossene Sache ist Je länger der Krieg dauert, umso mehr erkennen Truppen-wie Fachärzte die große Bedeutung dieser Erkrankungen in ihrer Auswirkung auf die Wehrmacht. Fragen der Pathogenese (D.B.! [Dienstbeschädigung]) stehen heute im Brennpunkt der Forschung Die Vorschläge von Walter Creutz und Heinrich Pette deckten sich mit den Schwerpunkten der ersten beiden Tage der Sechsten Jahresversammlung der Gesellschaft Deutscher Neurologen und Psychiater, die genau ein Jahr zuvor in Würzburg hatte stattfinden sollen. Creutz galt, wie oben dargestellt Die Bearbeitung hatte demnach -obwohl die Anfrage von Berlin nach Düsseldorf, von Düsseldorf nach München und Hamburg, von München nach Berlin gegangen war -nur gut zwei Wochen gedauert, ein Indiz dafür, dass Rüdin hier eine Möglichkeit sah, das politische Gewicht des Reichsgesundheitsführers für die psychiatrisch-neurologische Forschung zu nutzen. Die Erfolgsaussichten waren indes unklar. »Ob es sich bloß um eine Formsache« 500 handele oder ob »Wesentliches für die Forschung zu erwarten« sei, wisse er nicht, teilte er Creutz mit. Gleichwohl hatte er die Gelegenheit genutzt, ein Forschungsdesign nach seinen Vorstellungen zu entwerfen. Dabei hatte er die Anregungen, die Creutz und Pette gegeben hatten, aufgegriffen, aber in einen Gesamtzusammenhang gestellt, der vor allem auf die psychiatrische Genetik, die Rassenhygiene, aber auch die »Euthanasie« ausgerichtet war. Es handelt sich um ein Schlüsseldokument Als besonders dringend mahnte Rüdin Untersuchungen zur Entwicklung der Fruchtbarkeit in den so genannten »Ausleseberufe[n]«, 502 etwa bei den Offizieren der Wehrmacht, seit 1933 an -dies, so Rüdin wörtlich, sei »für [die] Stärke und Kulturbedeutung des künftigen, des ›ewigen‹ Deutschland von grundlegender allererstranginger Bedeutung«. Von der Antwort auf die Frage nach der Fruchtbarkeit der verschiedenen Bevölkerungsschichten hänge ab, »was noch zur Erhaltung und Mehrung der Begabung im deutschen Volke zu tun« sei. Daran schloss sich unmittelbar die Forderung an, im Tierversuch zu klären, welche Möglichkeiten zu einer so genannten »Erb-Auffrischungszucht beim deutschen Menschen« bestünden. Weiter regte Rüdin Untersuchungen zu den »im Kriege besonders ausgezeichneten Soldaten und Offizieren« an, um erkennen zu können, welche besonderen Auslesebedingungen in diesen Fällen ein hohes Maß an Begabung und Gesundheit hervorgebracht hätten. Überhaupt richtete Rüdin sein besonderes Augenmerk auf die »differenzierte Auslese und Ausmerze im Krieg«. So sei der Alkoholkonsum unter den Bedingungen des Krieges an der MPIP-HA: GDA 129. Pettes Anregungen tauchen im Programm Rüdins als Punkt 12 und 13 auf MPIP-HA: GDA 128. Danach auch das folgende Zitat Dieses Dokument ist in der Forschung mehrmals angesprochen und auch auszugsweise zitiert worden Um die Gesamtkonzeption dieses Forschungsprogramms genauer herauszuarbeiten MPIP-HA: GDA 129. Danach auch die folgenden Zitate (Hervorhebungen im Original) Bruno Schulz arbeitete während seiner Beurlaubung vom Wehrdienst von Oktober 1942 bis März 1943 über die Häufigkeit des Suizids bei manisch-depressiven Männern. XXII. Bericht über die Deutsche Forschungsanstalt für Psychiatrie Dieser letzte Punkt bezog sich auf eine Diskussion, die 1940 durch einen Artikel des »Schwarzen Korps« ausgelöst worden war, der sich dezidiert gegen die soziale Diskriminierung lediger Mütter und für staatliche Anreize für ledige, berufstätige Frauen zur Mutterschaft außerhalb der Ehe ausgesprochen hatte. Fritz Lenz, der Leiter der eugenischen Abteilung des Kaiser-Wilhelm-Instituts für Anthropologie, menschliche Erblehre und Eugenik, hatte daran in einer vertraulichen Eingabe scharfe Kritik geäußert -unter rassenhygienischen Gesichtspunkten solle sich der Staat auf die Förderung ehelicher Geburten konzentrieren. 504 Rüdin forderte nun eine unvoreingenommene Prüfung der eugenischen Bedeutung unehelicher Geburten. Dass er selbst der von Fritz Lenz vertretenen Position zuneigte, zeigt sich daran, dass im Jahre 1942 unter seiner Schriftleitung im »Archiv für Rassen-und Gesellschaftsbiologie« ein Artikel mit dem Titel »Die unehelich Geborenen, ein empfindlicher Wertmesser für die sittliche Kraft unseres Volkes« erschien, 505 der in dieser Frage dezidiert Stellung bezog. Rüdin musste sich daraufhin scharfe Kritik sowohl von Walter Groß seitens des Rassenpolitischen Amtes der NSDAP als auch von Herbert Linden aus dem Reichsinnenministerium gefallen lassen. Die Presseabteilung der Reichsregierung im Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda sah gar »staatsfeindliche Bestrebungen« am Werk und verlangte von Rüdin eine »Richtigstellung«. 506 Rüdin beeilte sich, dieser Forderung nachzukommen dem Leiter des Instituts für Sozialanthropologie und Volksbiologie an der Deutschen Univer sität Prag, im »Archiv für Rassen-und Gesellschaftsbiologie« zum Abdruck, 507 in einem Leitartikel zum Jahreswechsel 1942/43 stellte er darüber hinaus unter der Überschrift »Zehn Jahre nationalsozialistischer Staat« seine politische Linientreue Auf politisch sicherem Terrain bewegte sich Rüdin hingegen, wenn er sich in seinem Katalog kriegswichtiger Forschungsfragen für eine »erbbiologische Charakterisierung« von deutschen Frauen aussprach, die von Kriegsgefangenen und ausländischen Zwangsarbeitern schwanger geworden warendies war angesichts der drakonischen Strafen, die auf »Rassenschande« standen Auch Lenz musste sich 1943 wegen eines Artikels im »Archiv für Rassen-und Gesellschaftsbiologie«, der sich mit dem Familienlastenausgleich befasste Tzschucke wird hier als Mitarbeiter des Hygiene-Instituts der Universität Leipzig vorgestellt. Ernst Rüdin veröffentlichte im selben Band eine Rezension zu: Hans Binder, Die uneheliche Mutterschaft, ihre psychologischen, psychiatrischen, sozialen und rechtlichen Probleme Müller, der in der Weimarer Mitglied der SPD gewesen war, passte sich im »Dritten Reich« an. Vgl. Ursula Ferdinand, Historische Argumentationen in den deutschen Debatten zu Geburtenrückgang und differentieller Fruchtbarkeit Archiv für Rassen-und Gesellschaftsbiologie Pflegeanstalt Brandenburg-Görden unter Leitung von Hans Heinze eingerichteten Forschungsabteilung an, die sich schwerpunktmäßig der Differentialdiagnose geistiger Behinderungen im Kindesalter widmete. In seinem 17-Punkte-Programm von 1942 betont Rüdin bereits, wie wichtig es sei, die Gelegenheit zu nutzen, welche das »Euthanasie«-Programm für die erbpsychiatrisch-rassenhygienische Forschung eröffnete -im Hintergrund stand hier schon die furchtbare Möglichkeit, die klinischen und psychologischen Befunde durch die Ergebnisse der anatomischen und histologischen Untersuchung der Gehirne der ermordeten Kinder zu ergänzen Hier sind die Forschungen von Karlheinz Idelberger gemeint der von Oktober 1942 bis März 1943, von der Wehrmacht beurlaubt, vorübergehend wieder am Münchner Institut arbeitete, sowie auf zwei Forschungsprojekte zur »erbliche[n] Belastung von Kranken, die an kurzen, einmaligen schizophrenen Schüben mit guter und langer Remission« litten Könne man den Eltern der ermordeten Kinder gegenüber argumentieren, dass deren »Eliminationswürdigkeit« wissenschaftlich erwiesen sei, so die implizite These Rüdins, gebe man der »Euthanasie« eine feste Legitimationsbasis. An die Passage über Forschungen im Kontext der »Euthanasie« schlossen sich Ausführungen zum Gebiet der Neurologie an. Hier folgte Rüdin weitgehend den Empfehlungen Pettes. Die Anregung von Creutz aufgreifend, mahnte Rüdin, die Forschung auf dem Gebiet der Therapie der Psychosen, insbesondere im Hinblick auf die Elektrokrampftherapie dürfe auch im Krieg nicht zum Erliegen kommen. Auch sprach sich Rüdin, wie es Creutz vorgeschlagen hatte, dafür aus, die Produktion der für die Elektrokrampftherapie notwendigen Apparate aufrechtzuerhalten. Allerdings sah sich Rüdin gegenüber der Reichsgesundheitsführung zu einer Erläuterung veranlasst: »Wir haben zwar kein Interesse an der Erhaltung unheilbarer ruinenhafter Opfer der Vererbung am Leben und auch nicht an der Fortpflanzung der Menschen, welche Träger der zur Ausbildung schwerer Erbkrankheiten nötigen Erbanlagen sind. Aber wir haben ein Interesse daran Im vorletzten Punkt seines Programms kam Rüdin auf die Malariatherapie der progressiven Paralyse zu sprechen Mittel gegen Malaria in größerem Umfange zu erproben, um die Ergebnisse den Heeres-Angehörigen nutzbar zu machen, die an einer Früh-Syphilis, bezw. Malaria leiden Auf diese Weise aber wurden, wie Marion Hulverscheidt am Beispiel des Robert-Koch-Instituts gezeigt hat, Psychiatriepatienten mehr und mehr zu Versuchskaninchen der Tropenmedizin. Mehr noch: Im Interesse der Zucht von Anopheles-Mücken ging man dazu über, Psychiatriepatienten mit Malaria zu infizieren, nur um den Erreger am Leben zu erhalten. Aus dem »Heilversuch« war unter der Hand die Degradierung von hilflosen Menschen zu »Wirtstieren« geworden, um Krankheitserreger für die Forschung am Leben zu erhalten. 512 Mit seiner Stellungnahme von 1942 legitimierte Ernst Rüdin Instituts an Verbrechen gegen die Menschlichkeit -tropenmedizinische Menschenversuche im Nationalsozialismus Das Programm trägt die Handschrift Ernst Rüdins. Noch einmal: Dafür, dass er der »Euthanasie« persönlich ablehnend gegenübergestanden habe, wie Matthias M. Weber meint, gibt es in den Dokumenten keine Indizien. Im Gegenteil: Das Programm von 1942 belegt, dass er nicht nur die Forschungen im Zusammenhang mit der »Euthanasie« nachdrücklich befürwortete, sondern dass er Praktische Konsequenzen hatte sein Vorstoß, soweit erkennbar, nicht. Doch war die Verbindung zur Reichsgesundheitsführung wiederhergestellt Januar 1943 zu entnehmen ist, sollte sich Nitsche zum einen dafür einsetzen, dass eine zentrale leitende Stelle in der Psychiatrie eingerichtet würde, die »wissenschaftliche Anregungen« 513 geben sollte -dahinter sind unschwer die Ambitionen der »Euthanasie«-Zentrale zu erkennen, sollte Nitsche doch im Gespräch mit Linden und Conti die im Aufbau begriffene Zentralkartei in der Tiergartenstraße 4 erwähnen, die auf der Basis monatlicher Meldungen alle Bewohnerinnen und Bewohner der Heil-und Pflegeanstalten erfassen und auf diese Weise genaue Daten zur Belegung der Einrichtungen liefern sollte. Zum anderen sollte Nitsche auf den Erhalt aller Anstalten »in der Nähe von Kulturzentren«, auf den Ausbau der Arbeitstherapie und die Errichtung einer Musteranstalt in jedem Gau drängen. 514 In diesem Zusammenhang sollte er auch an den Reichsbeauftragten für die Heil-und Pflegeanstalten appellieren Januar 1943, hakte Nitsche noch einmal bei Schneider nach: »Es wäre mir sehr lieb, wenn Sie mir recht bald Ihre Notizen für Dr. Conti überlassen würden. Auch mit Rüdin und de Crinis habe ich telephonisch gesprochen und Rüdin will erst einmal unsere Vorschläge sehen Conti/Dr. Linden«, Aktennotiz der Abteilung Planung für Nitsche, 14.1.1943, BArch. R 96 I/7. Danach auch die folgenden Zitate Als Beispiel für eine solche »Musteranstalt« wurde das bayerische Günzburg erwähnt Dazu auch: Roelcke/Hohendorf/Rotzoll, Genetik, S. 68 f. Hans Heinze war offenkundig in diesen Kreis aufgenommen worden, weil Nitsche und Rüdin ihn als Vorsitzenden der Gesellschaft für Kinderpsychiatrie und Heilpädagogik betrachteten. Zumindest wird er als solcher in der Denkschrift bezeichnet auch für die Euthanasiefrage wertvoll sein wird.« Nitsche an Schneider, 27.1.1943, BArch. R 96 I/2. Auch abgedruckt in: Benzenhöfer, Hans Heinze, S. 45, Anm. 88. de Crinis hatte sich am 25. Januar 1943 schriftlich geäußert. Er plädierte für Anstalten mittlerer Größe mit etwa 1.000 Betten in der Nähe wissenschaftlicher Forschungsstätten und unter einem ärztlichen Direktor. De Crinis an Nitsche MPIP-HA: GDA 26. Rüdin, so heißt es hier weiter, möge sich auf den »nicht-militärischen Teil« beschränken. »Gerade in den Leistungen für die Gesundheit unserer Soldaten stehen wir augenblicklich noch mitten drin, so dass man ein abschließendes Urteil nicht abgeben kann Überblick über die Leistungen der deutschen Psychiatrie und Neurologie seit dem Jahre 1933, MPIP-HA: GDA 26. Gewisse Redundanzen im Text lassen vermuten, dass er mehrere Verfasser hatte Bericht über die Deutsche Forschungsanstalt, S. 802 f.; XX. Bericht über die Deutsche Forschungsanstalt für Psychiatrie, Kaiser-Wilhelm-Institut in München Überblick über die Leistungen der deutschen Psychiatrie und Neurologie seit dem Jahre 1933, S. 2, MPIP-HA: GDA 26. Danach auch die folgenden Zitate Manisch-Depressivem Irresein« erziele, so der Bericht, noch bessere Erfolge als bei Schizophrenie. 524 An anderer Stelle heißt es aber auch, neuere Untersuchungen hätten gezeigt, »dass durch die in die Schizophrenie-Therapie eingeführte Insulin-und Krampf-bzw. Schockbehandlung schwere Hirnschädigungen hervorgerufen werden können.« 525 Im Bereich der psychiatrischen Therapeutik finden die Arbeitstherapie nach Hermann Simon und Carl Schneider sowie die offene Fürsorge kurz Erwähnung. »In der Berichtszeit vollendete sich auch die kritische Überwindung der Freud'schen Psychoanalyse, bei der sich die deutschen Psychiater, besonders [Oswald] Bumke, große Verdienste erworben haben«, 526 stellt der Bericht schließlich zufrieden fest. Im Bereich der neurologischen Erkrankungen werden noch die in Deutschland von Henry D. v. Witzleben eingeführte Behandlung der epidemischen Enzephalitis und ihrer Folgezustände durch homöopathische Dosen der bulgarischen Belladonnawurzel 527 sowie die Fortschritte in der Behandlung der Meningitis durch die Einführung der Sulfonamide in die Chemotherapie durch Gerhard Domagk (1895-1964) angesprochen. Der dritte Abschnitt behandelt -ebenfalls in knapper Form -die »Disziplin der psychiatrischen Erbbiologie«, 528 insbesondere die »Rüdin'sche Münchner Schule«. Sie habe »erfolgreich den vorwiegend erblichen Charakter einer Reihe von häufigeren geistigen Störungen […] erwiesen und dadurch den eliminatorisch rassenhygienischen Maßnahmen, wenn auch in den verschiedenen Staaten in verschiedener Form und in verschiedenem Ausmaß, einen mächtigen Impuls gegeben.« 529 Zwar sei das »Forschungsideal der Aufdeckung exakter Mendel'scher Erbregeln […] noch nicht erreicht«, 530 doch sei es aufgrund der Empirischen Erbprognose, der Zwillingsforschung und genealogischer Studien mittlerweile möglich, »Risiko-Ziffern für das Befallenwerden eines gegebenen Menschen« anzugeben, was für die »Begründung des Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses und der Eheberatung« wichtig sei. Konkret werden Studien zur Erblichkeit der Epilepsie, der Schizophrenie und des »manisch-depressiven Irreseins« angeführt, wobei auch die statistischen Studien des Schweden Erik Essen-Möller (1901-1992) der Ein von ihm entwickeltes Präparat zur Behandlung von Hautverätzungen durch Giftgas wurde auf seine Anregung hin im KZ Buchenwald an Häftlingen erprobt Überblick über die Leistungen der deutschen Psychiatrie und Neurologie seit dem Jahre Die Bemerkung bezieht sich auf eine Studie von Johanna Hempel am Hirnpathologischen Institut der Deutschen Forschungsanstalt für Psychiatrie: Johanna Hempel, Zur Frage der morphologischen Hirnveränderungen im Gefolge von Insulinshock-und Cardiazol-und Azomankrampfbehandlung Überblick über die Leistungen der deutschen Psychiatrie und Neurologie seit dem Jahre Die Behandlung der chronischen Encephalitis epidemica (Parkinsonismus) mit der »Bulgarischen Kur«, Berlin 1938; ders., Methods of Treatment in Postencephalitic Parkinsonism Überblick über die Leistungen der deutschen Psychiatrie und Neurologie seit dem Jahre Danach auch das folgende Zitat Zu Essen-Möller als Schüler Rüdins und Stipendiat der Deutschen Forschungsanstalt für Psychiatrie ausführlich: Roelcke, Concerns In diesem Zusammenhang wird auch die zu diesem Zeitpunkt im Druck begriffene Habilitationsschrift des Tübinger Kinder-und Jugendpsychiaters Hermann Stutte (1909-1982) »Über Schicksal, Persönlichkeit und Sippe ehemaliger Fürsorgezöglinge. Beitrag zum Problem der sozialen Prognose« lobend erwähnt Aus der Münchener Schule werden die Zwillingsforschungen von Karlheinz Idelberger zur Erblichkeit des Klumpfußes, der angeborenen Hüftgelenksluxation und der Lippen-Kiefer-Gaumen-Spalte und von Hildegard Then Bergh zum Diabetes mellitus hervorgehoben, die auch Zusammenhänge zwischen diesen körperlichen Behinderungen und Krankheiten und »geistiger Abnormität« in den Blick nehmen sollten -Studien, die eigentlich in das Forschungsgebiet des Kaiser-Wilhelm-Instituts für Anthropologie, menschliche Erblehre und Eugenik in Dahlem fielen und folgerichtig zu Konflikten zwischen Berlin und München führten. 536 Aus dem breit angelegten Forschungsprogramm des Dahlemer Instituts werden in dem Bericht lediglich die Untersuchungen von Hans Nachtsheim Tierversuche kamen wohl auch an der Deutschen Forschungsanstalt für Psychiatrie in München vor, im Zusammenhang mit den fragwürdigen Forschungen Theo Langs über einen Zusammenhang zwischen natürlicher Radioaktivität, Bodenerosion und Kretinismus. »Die Weiterführung der Tierexperimente«, so Rüdin, »des von mir zum Beweis der Richtigkeit der Stutte hatte das Habilitationsprojekt als Gießener Assistenzarzt Hermann Hoffmanns an Fürsorgezöglingen aus dem Zuständigkeitsbereich des Jugendamtes Gießen durchgeführt. Er folgte Hoffmann nach Tübingen und reichte die Habilitationsschrift dort ein. Das Projekt wurde auch von Ernst Rüdin nachdrücklich unterstützt 249; XIX. Bericht über die Deutsche Forschungsanstalt, S. 802, 805; XX. Bericht über die Deutsche Forschungsanstalt Auch der Abschnitt über die Neurologie betont ein »besonderes Interesse« an »erbbiologischen Fragen«, wobei insbesondere auf die Beiträge auf den ersten beiden Jahresversammlungen der Gesellschaft Deutscher Neurologen und Psychiater 1935/36 und auf dem Internationalen Neurologenkongress 1939 verwiesen wird. Überblick über die Leistungen der deutschen Psychiatrie und Neurologie seit dem Jahre 276, 280; XXI. Bericht über die Deutsche Forschungsanstalt, S. 793 f., 796; XXII. Bericht über die Deutsche Forschungsanstalt für Psychiatrie, Kaiser-Wilhelm-Institut, S. 481 f.; XXIII. Bericht über die Deutsche Forschungsanstalt für Psychiatrie, Kaiser-Wilhelm-Institut, S. 318 (die Forschungen von Karlheinz Idelberger wurden ab 1942 von Annemarie Idelberger Bericht über die Deutsche Forschungsanstalt, S. 805 f.; XX. Bericht über die Deutsche Forschungsanstalt, S. 277 f. Stattdessen reiste Lang 1941 zu neuen Feldforschungen in die Schweiz, aus der er bis Kriegsende nicht zurückkehren sollte Die Passagen über die Histopathologie des Zentralnervensystems, zur Serologie und Biochemie des Gehirns sowie zur Neurologie und Neurochirurgie fallen ausführlicher aus. 539 In diesen Abschnitten werden insbesondere Arbeiten aus dem Kaiser-Wilhelm-Institut für Hirnforschung 540 und aus den Abteilungen für Hirnpathologie, Spirochätenforschung und Serologie der Deutschen Forschungsanstalt für Psychiatrie hervorgehoben. Fritz Roeder arbeitete in der Serologischen Abteilung der Deutschen Forschungsanstalt seit 1938 auf dem neuen Forschungsfeld der Liquoranalyse psychischer Störungen. Im Bericht wird lobend hervorgehoben, dass Roeder die »gänzliche Unbrauchbarkeit« 541 der »serologische Untersuchungen über die Auswirkungen des Sauerstoffmangels auf den Augenhintergrund durch. 543 Auch die Tierexperimente Schaltenbrands zur Erforschung der Multiplen Sklerose finden Erwähnung. Schaltenbrand habe »erst kürzlich über den Stand experimenteller Arbeiten berichtet, nach denen es bei zisternaler Überimpfung von Liquor von multiple Sklerose-Kranken auf Affen zu ausgeprägten entzündlichen Erscheinungen kam, die in Zusammenhang mit einem vermeintlich verimpften Virus gebracht wurden«. 544 Indes ist der Bericht in seiner Beurteilung vorsichtig vielleicht spiegelt die Gewichtung auch die Verschiebung der Interessen Rüdins innerhalb der Deutschen Forschungsanstalt für Psychiatrie wider »Auf Grund einer Beobachtung von Spatz, nach der einer geschlechtlichen Frühreife eines dreieinhalbjährigen Knaben eine Mehrleistung des hochgradig hyperplastischen Tuber cinereum des Hypothalamus zugrunde lag, wurde im Tierversuch das Tuber cinereum ausgeschaltet, was zu einem entgegengesetzten Effekt, nämlich dem völligen Ausbleiben der Geschlechtsreife führte« (ebd., S. 17). Diese Tierexperimente seien »technisch gesehen eine Spitzenleistung« (ebd., S. 18), diesen Forschungen des Kaiser-Wilhelm-Instituts für Hirnforschung gebühre MPIP-HA: GDA 26. Danach auch die folgenden Zitate. Vgl. XIX. Bericht über die Deutsche Forschungsanstalt, S. 797; XX. Bericht über die Deutsche Forschungsanstalt, 273; XXII. Bericht über die Deutsche Forschungsanstalt für Psychiatrie Überblick über die Leistungen der deutschen Psychiatrie und Neurologie seit dem Jahre Er hatte zunächst schwer an Multipler Sklerose erkrankten Menschen Liquor entnommen und auf Affen übertragen. Im zweiten Schritt hatte Schaltenbrand Wernecker Patienten mit dem Liquor der vorbehandelten Affen geimpft. Diese Experimente widersprachen eklatant den 1931 vom Reichsinnenministerium erlassenen Richtlinien für Versuche an Menschen. Schaltenbrand selber erklärte 1943 freimütig, dass er die Verantwortung für derartige Versuche, die man einem Gesunden oder auch körperlich Kranken nicht zumuten könne, tragen zu können meine, wenn es sich um Menschen handelte, »die an einer unheilbaren vollkommenen Verblödung leiden« (Georg Schaltenbrand, Die Multiple Sklerose des Menschen 731 f.; Weindling, Victims, S Er bahnte aber wieder einen unmittelbaren Zugang zu Conti und eröffnete die Möglichkeit, dem Reichsgesundheitsführer die seit dem Januar 1943 geplante Denkschrift zur zukünftigen Gestaltung des Anstaltswesens zu übermitteln Überblick über die Leistungen der deutschen Psychiatrie und Neurologie seit dem Jahre Von besonderem Interesse sind hier die Beiträge von H. Wagner, Über die Isolierung von Abwehrfermenten bei Schizophrenen (S. 124-142), und O. Buschhaus, Über die Isolierung von Abwehrfermente bei Schizophrenen während der Insulinbehandlung (S. 143-159) Die Elite der Nation im Dritten Reich. Das Verhältnis von Akademien und ihrem wissenschaftlichen Umfeld zum Nationalsozialismus Personenlexikon, S. 18 f. Zu den Abwehrfermenten: Mir Taher Fattahi, Emil Abderhalden (1877-1950): Die Abwehrfermente. Ein langer Irrweg oder wissenschaftlicher Betrug? Rüdin von einer offiziellen Delegation der Gesellschaft Deutscher Neurologen und Psychiater ausging, geht schon aus dem Umstand hervor, dass er die Korrespondenz, die sich auf diesen Vorgang bezieht Einheitliche Ausrichtung des deutschen Irrenwesens Grundsätzliche Sicherstellung psychiatrischer Leitung oder doch psychiatrischer Oberaufsicht über alle Anstalten für geistig Abnorme Abschaffung aller privaten und konfessionellen Anstalten für geistig Abnorme Nutzbarmachung aller Anstalten für psychisch Abnorme für die Forschung durch organisatorische Verbindung mit der Deutschen Forschungsanstalt für Psychiatrie Anerkennung und möglichste Durchführung des Grundsatzes, dass Heil-und Pflegeanstalten in erreichbarer Nähe von wissenschaftlichen Fortbildungsstätten liegen sollen, also in der Nähe von Universitätskliniken und von größeren Städten mit regem medizinisch-wissenschaftlichen Leben, an dem die Anstaltsärzte teilnehmen können und teilzunehmen haben. Für die Zeit nach Beendigung des Krieges bedeutet diese Forderung, dass bei der Entscheidung über die Beibehaltung der bestehenden Heil-und Pflegeanstalten für psychiatrische Zwecke dieser Grundsatz ausschlaggebend sein soll. Man soll also derartig günstig gelegene Anstalten nicht auflösen und anderer Verwendung zuführen Der Textvergleich mit Carl Schneiders Text vom 28. Januar 1943 zeigt große Übereinstimmungen. Neu sind kurze Passagen zum Verhältnis von Psychiatrie und Neurologie sowie zur Kinderpsychiatrie, die wahrscheinlich aus der Feder de Crinis' und Heinzes stammen. Ausführungen zu der im Aufbau begriffenen Zentralstelle zur Erfassung sämtlicher Anstalten und Heime »im Großdeutschen Reich« und mehrere Punkte des abschließenden Forderungskatalogs weisen große Ähnlichkeit mit der Aktennotiz der »Abteilung Planung« der »Euthanasie«-Zentrale vom 13 Conti geschickt und dann mit ihm besprochen hatten, nachher auch noch Professor Brandt überreicht habe, nachdem ich mit ihm in Sachen der Psychiatrie eine Besprechung gemeinsam mit de Crinis gehabt hatte.« Nitsche an Rüdin, 17.1.1944, MPIP-HA: GDA 26. -Als Anlagen wurden der Denkschrift die Resolution der Gesellschaft Deutscher Neurologen und Psychiater zur Einführung der Sektionspflicht aus dem Jahre 1939, ein kurzer Bericht über einen Vortrag von Friedrich Stumpfl zur Kinderpsychiatrie und eine Denkschrift Hans Heinzes mit dem Titel »Vorschläge für eine zukünftige Neugestaltung jugend-psychiatrischer Anstalten« vom 6 Es ist bereits jetzt die Einrichtung getroffen worden, dass sämtliche Anstalten und Heime im Großdeutschen Reiche, welche der Behandlung und Pflege geistig Abnormer dienen, in einer Zentralstelle erfasst und in eingehender Planungsarbeit überprüft wurden. Das Ergebnis dieser Feststellungen ist in einer Kartei niedergelegt, welche auf Grund einer den Anstalten auferlegten Pflicht zur Meldung aller eintretenden Veränderungen in Krankenbestand und Organisation dauernd auf dem Laufenden gehalten wird.« 6. Bei der Auswahl der Anstalten im Sinne von Punkt 5 und bei etwaigen späteren Neubauten ist aber auch darauf zu achten Die Anstalten sind im Interesse der Heilbehandlung mit allem diagnostisch-therapeutischen Rüstzeug auszustatten Zur Weiterbehandlung entlassener Kranker im Interesse der Sicherung des Behandlungserfolges und des Arbeitseinsatzes sind Ambulanzen bei den Anstalten einzurichten Wo es möglich ist, empfiehlt sich die Errichtung von psychiatrischen Kliniken und Anstalten in äußerem Zusammenhang mit Krankenhäusern für körperlich Kranke, da heute die Psychiatrie engste Beziehung zur somatischen Medizin, besonders auch zur inneren Medizin zu unterhalten hat. (So ist z.B. in Troppau/Sudetengau vor längerer Zeit auf dem Gelände einer bereits bestehenden Heil-und Pflegeanstalt und in wirtschaftlicher Verbindung mit ihr ein allgemeines Krankenhaus errichtet worden, eine Maßnahme, die sich nach dem Urteil der dort arbeitenden Ärzte außerordentlich bewährt hat Die Anstaltspsychiater sind in die volkspflegerischen Maßnahmen der Jugendfürsorge, der kriminalbiologischen Betreuung bestimmter Bezirke und in ähnliche Arbeitsbereiche einzubauen Die Ausbildung der Anstaltsärzte soll sie zu den ihnen obliegenden Aufgaben in jeder Hinsicht befähigen und muss sich demgemäß besonders auch auf Rassenhygiene und Erbbiologie, auf innere Medizin und Neurologie erstrecken Für die Pflege der pathologischen Anatomie im Sinne der Entschließung der Gesellschaft Deutscher Neurologen und Psychiater Der wissenschaftlichen Fortbildung der Anstaltsärzte ist besonderes Augenmerk zuzuwenden Die Bestrebungen der Kinderpsychiatrie sind allenthalben zu fördern Die ärztliche Oberleitung der Anstalten ist zu gewährleisten. Zu Chefärzten sind nur wissenschaftlich durchgebildete und erprobte Ärzte zu bestellen. Der Chefarzt muss über die wissenschaftlichen Fähigkeiten hinaus durch eine Vorbereitungszeit als stellvertretender Chefarzt die organisatorischen Notwendigkeiten der Anstalten kennengelernt und die Befähigung zur arbeitstherapeutischen Nutzung der Kranken erwiesen haben Es muss von zuständiger Stelle aus dafür gesorgt werden, dass anstatt der jetzt zum Teil so falschen Bewertung der Psychiater und ihrer Arbeit richtige Vorstellungen verbreitet werden und dass jede Verfemung dieser Fachärzte künftig unterbunden wird. Regelmäßige Belehrung der Gauamtsleiter für Volksgesundheit über die psychiatrischen Fragen gelegentlich der Gauamtsleitertagung erscheint besonders notwendig. Mit zielbewusster Aufklärungstätigkeit in dieser Hinsicht möchte bereits jetzt Anfang gemacht werden.« 553 Manche Kernelemente dieses Forderungskatalogs -die wissenschaftliche Grundlegung der praktischen Psychiatrie, eine qualifizierte Aus-und Fortbildung der Ärzte, der Vorrang der Behandlung vor der Verwahrung in den stationären Einrichtungen, der Grundsatz der gemeindenahen Unterbringung, fließende Grenzen zwischen stationären, halbambulanten und ambulanten Behandlungsformen, die Verbindung von psychiatrischer Klinik und Allgemeinkrankenhaus -erinnern aus heutiger Sicht an die Sozialpsychiatrie, wie sie seit den Dezember 1942 gerichtet haben, in dem Pette sich dafür eingesetzt hatte, die Neurologie in Anlehnung an die Innere Medizin zum selbst ständigen Fachgebiet auszubauen. Pette an Conti Kersting/Schmuhl (Hg.), Quellen, S Danach auch die folgenden Zitate. -Die späte Berichterstattung begründete Nitsche damit, dass er drei Wochen zur Erholung am Attersee verbracht und dann weitere zwei Wochen gebraucht habe, um, zurück in Berlin, »die nötige Klarheit über die Weiterentwicklung [zu] erhalten«. Daraus kann man schließen, dass Nitsche gleich nach dem Treffen mit Karl Brandt Die moderne Behandlung der Geistesstörungen. Die Psychiatrie im Kampf um die Volksgesundheit schrieb er an Nitsche: »Dazu drängt mich Conti immer aufs Neue, ihm umgehend einen Übersichtsbericht über das gesamte kinderpsychiatrische Schrifttum seit dem Jahre 1933 einzureichen.« Heinze an Nitsche, 10.11.1943, BArch. R 96 I/18 (auch abgedruckt in Benzenhöfer, Briefwechsel, S. 274 f., Zitat: S. 274). Nitsche bat daraufhin dringend, Heinze möge diesem Text Priorität einräumen Am 24. Dezember 1943 teilte Heinze mit, der Text sei fertiggestellt Heinze an Nitsche, 20.1.1944, BArch. R 96 I/18 (auch abgedruckt in Benzenhöfer, Briefwechsel, S. 284 f., Zitate: S. 284). Vgl. auch: Benzenhöfer, Hans Heinze, S. 45-49. Rüdin wollte wohl auch im »Archiv für Rassen-und Gesellschaftsbiologie« einen Artikel von Hans Heinze platzieren: »Ich habe schon vor längerer Zeit Kollegen Heinze gebeten, mir einen Archiv-Artikel zu schreiben über Tatsache und Begründung euthanatischer Maßnahmen bei den von ihm so gründlich untersuchten Kindern Kenntnisse und Fähigkeiten die Arbeit des Psychiaters in der praktischen Rassenhygiene (Eheberatung, Gutachtertätigkeit in Unfruchtbarmachungsverfahren, Förderungsfragen usw.) voraussetzen muss«. 558 Schließlich sei zu überlegen, einen vierten, »praktisch-organisatorischen Aufsatz über die Zukunft der Psychiatrie« zu lancieren, der »im Sinne der praktischen Gesichtspunkte unserer Denkschrift für Conti, die zukünftige Gestaltung der psychiatrischen Organisationen beleuchten müsste.« 559 Zusammenfassend hielt Nitsche fest, dass er »einmal aus der ganzen Art, wie der Reichsärzteführer auf den Schneiderschen Aufsatz reagiert hat, als auch bei den telefonischen Besprechungen über diese Frage mit einigen seiner Ärzte, den bestimmten Eindruck gewonnen habe, dass unsere Anregungen vom 5./6. [sic] bei C.[onti] durchaus auf fruchtbaren Boden gefallen sind Rüdin an Nitsche, 22.9.1943; Nitsche an de Crinis, 30.10.1943, BArch. R 96 I/18. Dazu auch: Nitsche an Heinze, 19.11.1943, BArch. R 96 I/18 (auch abgedruckt in Benzenhöfer, Briefwechsel, S. 275 ff., hier: S. 276). Vgl. Roelcke, Wissenschaft, S. 148. Zu Thums' Verstrickung in die »Volkstumspolitik« des Reichssicherheitshauptamtes im besetzten Osteuropa vgl Zu beachten sei, dass Hanko »die Zahl der Anstaltsinsassen nach dem Bestand vom Beginn unserer Aktion zugrunde legt. Er rechnet nur mit einem in 30.60 [sic] Jahren etwa sich bemerkbar machenden Rückgang der Anstaltsinsassen um 20 %, infolge der Sterilisierung Geisteskranker«. Demgegenüber müsste berücksichtigt werden, »dass infolge unserer Aktion und der Auswirkung des künftigen Gesetzes über die Gewährung letzter Hilfe usw., in Zukunft ein sehr erheblich geringerer Krankenbestand anstaltsmäßig zu versorgen sein wird als bisher. Die reinen Pflegeaufgaben werden vollständig wegfallen, und das wird eine erhebliche Verminderung des Bettenbedarfes, also auch eine nennenswerte Verringerung der Zahl der nötigen Anstalten bedeuten.« Die verbleibenden Anstalten sollten künftig »nicht mehr Pflegeanstalten, sondern Heil-und Forschungsinstitute sein«. Um dieser Aufgabe gerecht werden zu können, empfahl Nitsche Anstalten in einer Größenordnung von 1.000 bis 1 Im weiteren Kriegsverlauf riss die unmittelbare Verbindung zu Leonardo Conti indessen ab. Paul Nitsche hoffte, dass Hans Heinze Zugang zum Reichsgesundheitsführer bekäme, was dieser aber für ausgeschlossen hielt Generalkommissar des Führers für das Sanitäts-und Gesundheitswesen« ernannt worden. 561 Ein unmittelbarer Zugang zu Brandt, um ihn »für die Belange der Psychiatrie zu interessieren«, schien daher außerordentlich nützlich. Indes war Brandt »außerordentlich schwer zu erreichen«. Als sich daher »durch Vermittlung von Herrn de Crinis ganz plötzlich die seltene Gelegenheit« zu einem Gesprächstermin bei Brandt ergab, was Nitsche »erst am gleichen Tag und wenige Stunden vor der Besprechung überhaupt erfuhr«, zögerte er nicht lange Dabei ging es darum, die Verlegungswelle, die durch die Räumung von Heil-und Pflegeanstalten zur Schaffung von Ausweichkrankenhäusern für luftkrieggefährdete Gebiete ausgelöst worden war, dazu auszunutzen, die Morde durch überdosierte Medikamentengaben, die auch nach dem Stopp der »Aktion T4« fortgesetzt worden waren, in größerem Maßstab wiederaufzunehmen. Am 25. August teilte Nitsche de Crinis mit: »Was unsere Aktion bei Prof. Br.[andt] anlangt, so […] hat er mir durch Herrn [Werner] Blankenburg [1905-1957] die Ermächtigung erteilt, im Sinne meines ihm mündlich gemachten E.[uthanasie]-Vorschlages vorzugehen.« 565 Wohl schon in Erwartung dieser Ermächtigung hatte Nitsche am 17 Zur Stellung des »Reichskommissars für das Sanitäts-und Gesundheitswesen« im Herrschaftsgefüge des dass es infolge der kurzfristigen Ansetzung nicht möglich gewesen sei, alle an der Denkschrift Beteiligten hinzuziehen. »Prof. Br.[andt] weiß aber die Namen aller der Herren, auf deren Zusammenwirken die Denkschrift beruht Nitsche an Brandt, 26.6.1943, BArch. R 96 I/9. Vgl. Schmidt, Hitlers Begleitarzt, S. 312, 358, 470. 564 Nitsche an de Crinis, 30 Nitsche an de Crinis, 25.8.1943, BArch. R 96 I/2. Auch zit Nitsche an Rüdin, 17.1.1944, MPIP-HA: GDA 26. Danach auch die folgenden Zitate auch infolge der Entwicklung des Luftkrieges und seiner Folgen außerordentlich überlastet, so dass mir auch de Crinis vor einigen Wochen auf eine Anfrage, ob er ihn einmal habe sprechen können, schrieb, das sei ihm nicht möglich gewesen.« Nitsche kündigte an, er werde Anfang Februar 1944 wieder nach Berlin zurückkehren und dann bei Brandt »persönlich vorfühlen«, wobei er nicht nur an die Fortsetzung der Beratungen über die Zukunft der Psychiatrie dachte, sondern auch die »Tagungsfrage« ansprechen und sich nach dem »Stand des Asozialen-Gesetzes« erkundigen wollte. Nitsche und Rüdin waren sich, wie dieses Schreiben belegt, nicht sicher, wie sich die Machtverhältnisse innerhalb der nationalsozialistischen »Gesundheitsführung« mittlerweile entwickelt hatten: »Ihre Anfrage, inwieweit man sich jetzt in grundsätzlichen medizinischen Fragen an C.[onti] oder an Br Es wäre nun sehr zweckmäßig, wenn auch Sie dabei wären, denn Sie gehören ja unbedingt mit dahin.« 568 Einen Tag später schrieb Dietrich Allers (1910-1975), der Geschäftsführer der »Euthanasie«-Zentrale, an Nitsche, dass Werner Blankenburg (1905-1957), Chef des Amtes II der »Kanzlei des Führers«, und Brandt an der geplanten Konferenz teilnehmen sollten. Allers hatte den Eindruck gewonnen, dass Brandt »die Sache für durchaus richtig hält«. Offenbar sah sich der Generalkommissar für das Sanitäts-und Gesundheitswesen aber außerstande, bei Hitler um eine Aufhebung des Stopps der »Aktion T4« nachzusuchen und der Zentraldienststelle einen formellen »Euthanasie«-Auftrag zu erteilen, war jedoch bereit, die insgeheim angelaufenen Maßnahmen zu decken: »Er schien sehr interessiert […] sagte aber, dass er nichts aussprechen könne Auf jeden Fall ist Professor Brandt sehr interessiert an dem ganzen Problem. Er hat ausdrücklich betont, dass die Wiederaufnahme der Arbeit im großen Stil ohne Zweifel eines Tages kommen müsse, dass allerdings im Kriege nicht mehr damit zu rechnen sei Die Vorgänge um die Denkschrift zur künftigen Entwicklung der Psychiatrie belegen einmal mehr, wie eng die Interessenpolitik der wissenschaftlichen Fachgesellschaft mit dem »Euthanasie«-Programm verflochten war BArch. R 96 I/4. Auch abgedruckt in: Aly, Medizin, S. 63 BArch. R 96 I/1 (z.T. zit Juli 1944 schrieb Nitsche an Hans Heinze: »Wenn Sie zu Conti gehen, dann fragen Sie doch einmal mit, wie er über die Möglichkeit einer Tagung der Psychiater und Neurologen früher oder später denkt. Für mich ist es klar, dass eine solche zur Zeit bis auf weiteres weniger denn je in Frage kommt. Aber Rüdin, der im Grunde auch dieser Meinung ist, fragt manchmal bei mir an, weil er sich verpflichtet fühlt, diese Frage immer wieder mal aufzuwerfen. Er schrieb mir gestern, dass er kürzlich wieder einmal wegen einer Tagung beim Heeres-Sanitätsinspekteur Juni 1944 mitgeteilt, dass sie den Plan zu einer Dienstbesprechung der Gesellschaft Deutscher Neurologen und Psychiater grundsätzlich begrüße und »das Zustandekommen der Tagung bestmöglich fördern« 572 wolle. Die Teilnehmer, die Angehörige des Heeres waren, sollten, soweit es die militärische Lage zuließ -die aber »natürlich noch nicht zu übersehen« sei -»in dem dienstlich tragbaren Rahmen« zu der Veranstaltung abkommandiert werden. Hervorzuheben ist, dass die Heeressanitätsinspektion in dieser späten Kriegsphase eine massive Vorzensur im Hinblick auf die Inhalte der beabsichtigten Veranstaltung ausübte. Dies führte bei allen in Aussicht genommenen »Leitthemen« zu Einschränkungen: Mit Blick auf den Themenschwerpunkt »Hirnverletzte und Arbeitseinsatz« wurde angemerkt, dass »in keinem Fall in den Vorträgen Angaben über etwaigen Mangel an Ärzten oder Unzulänglichkeiten gebracht werden« dürften. Im Hinblick auf den Themenschwerpunkt »Periphere Nervenverletzungen und vegetative Störungen« schärfte die Heeressanitätsinspektion ein: »Da es möglich ist Heeressanitätsinspekteur an Gesellschaft Deutscher Neurologen und Psychiater/Rüdin, 30.6.1944, MPIP-HA: GDA 26. Danach auch die folgenden Zitate