key: cord-0035025-m1zn382s authors: Tomaso, H.; Finke, E. -J; Frangoulidis, D title: Bioterrorismus, infektiologische Aspekte date: 2009-08-18 journal: Lexikon der Infektionskrankheiten des Menschen DOI: 10.1007/978-3-540-39026-8_120 sha: b8c58156557b7a17b3c73064ed35ca69af3c7e73 doc_id: 35025 cord_uid: m1zn382s Infektionskrankheiten sind ständige Begleiter und gefürchtete Geißeln der Menschheit. Pest und Pocken versetzen als todbringende Seuchen die Menschen nicht erst seit dem Altertum in Schrecken (lat.: terror). Archaische Ängste und eine hohe Medienaufmerksamkeit sorgen mitunter bis in die Gegenwart noch für Panik und irrationale Reaktionen, wie die Massenflucht während eines ungewöhnlichen Lungenpestausbruchs in Surat im Herbst 1994 und daraus resultierende drastische Flug- und Handelsbeschränkungen mit Indien beweisen. Infektionskrankheiten sind ständige Begleiter und gefürchtete Geißeln der Menschheit. Pest und Pocken versetzen als todbringende Seuchen die Menschen nicht erst seit dem Altertum in Schrecken (lat.: terror). Archaische Ängste und eine hohe Medienaufmerksamkeit sorgen mitunter bis in die Gegenwart noch für Panik und irrationale Reaktionen, wie die Massenflucht während eines ungewöhnlichen Lungenpestausbruchs in Surat im Herbst 1994 und daraus resultierende drastische Flug-und Handelsbeschränkungen mit Indien beweisen. Epidemien haben in der Vergangenheit viele Kriege entscheidend beeinflusst und nicht selten die Eroberung und Besiedlung neuer Territorien begünstigt. So soll im Jahre 1346 ein Pestausbruch in dem von Tartaren belagerten Kaffa auf der Halbinsel Krim die Verteidiger zur Übergabe ihrer Stadt gezwungen haben. Pizarro konnte das Inkareich vermutlich nur deshalb erobern, weil eingeschleppte Infektionskrankheiten auf eine immunologisch naive Bevölkerung trafen und diese so dezimierten, dass kein nennenswerter Widerstand mehr möglich war. Nur wenige Jahrzehnte nach ihrer Entdeckung wurde das militärische Potenzial von Mikroorganismen erkannt. In einigen europäischen Ländern, den USA und Japan begann man nach dem 1. Weltkrieg, verschiedene Mikroorganismen und Toxine systematisch B sondern auch staatlich unterstützte oder unabhängig agierende Terroristen, Gruppen der organisierten Kriminalität und Einzeltäter in den Besitz von B-Kampfmitteln gelangen könnten. Experten nehmen an, dass bei ausreichendem naturwissenschaftlichem, medizinischem und biotechnischem Sachverstand biologische Kampfstoffe relativ billig, einfach und ohne Aufsehen mit derzeit verfügbaren "dualen" Technologien hergestellt und mit handelsüblicher Technik auf unterschiedliche Weise ausgebracht werden könnten. Für eine biologische Kriegsführung oder bioterroristische Anschläge potenziell nutzbare Krankheitserreger und Toxine, sogenannte "kritische" oder "biologische (B-) Agenzien", sind durchaus verfügbar, da sie in vielen Ländern natürlich vorkommen. Spätestens seit den Terrorakten vom 11. September 2001 und den Anschlägen mit Anthraxsporen kontaminierten Briefen in den USA sowie durch die Milzbrandfehlalarme in Deutschland werden biologische Bedrohungen auch hierzulande stärker wahrgenommen. Dazu trugen nicht zuletzt Medienkampagnen bei, die eine stark verunsicherte Öffentlichkeit über mögliche biologische Risiken und Gefährdungen aufzuklären suchten. Aufgefordert durch die Europäische Kommission und die WHO wurde der Schutz der Bevölkerung vor biologischen Gefahren verstärkt, indem u. a. das Zentrum für biologische Sicherheit am Robert-Koch-Institut und entsprechende regionale Kompetenzzentren eingerichtet und ein nationaler Pockenalarmplan erarbeitet wurden. Spezielle Ausund Fortbildungsangebote dienen dazu, Rettungsund Ordnungskräfte, Angehörige des öffentlichen Gesundheitsdienstes und das ambulant und stationär tätige medizinische Personal auf mögliche biologische Schadenszenarien vorzubereiten, die Folge von biologischem (Bio-oder B-) Terrorismus sind. Gewöhnlich wird als Bioterrorismus eine Drohung mit oder der Einsatz von biologischen Kampfmitteln, biologischen Kampfstoffen und vergleichbaren Substanzen durch Staaten, Gruppen oder Einzelpersonen aus politischen, militärischen, religiösen, ökonomischen oder anderen Beweggründen bezeichnet. Angedrohte oder tatsächlich erfolgte bioterroristische Anschläge zielen darauf ab, physische und psychische Schäden auszulösen, Bevölkerungsgruppen in Angst und Panik zu versetzen und zu demoralisieren, eine Gesellschaft wirtschaftlich zu schwächen, politisch zu destabilisieren oder sogar zu paralysieren. Die größte Gefährdung würde dabei von einer Anwendung biologischer Waffen ausgehen, d. h. von Kombinationen aus biologischen (B-) Kampfstoffen und speziellen technischen Einsatzmitteln, die für militärische Ziele bestimmt sind. Biologische Kampfstoffe sind zu nicht friedlichen Zwecken produzierte vermehrungsfähige Organismen und physiologisch aktive Stoffe, die den Tod, eine vorübergehende Handlungsunfähigkeit oder eine dauerhafte Schädigung des Menschen verursachen können. Über 30 Arten und Typen von Krankheitserregern und Toxinen gelten nach Ansicht internationaler Expertengremien und der Centers for Disease Control and Prevention (CDC) in Atlanta als potenzielle B-Kampfstoffe. Einige der Agenzien sind aus bisher offengelegten B-Waffen-Programmen bekannt, wurden schon einmal waffenfähig gemacht oder bei terroristischen bzw. kriminellen Aktionen eingesetzt. Es handelt sich dabei um besonders wirksame mikrobielle, pflanzliche oder tierische Toxine und hoch virulente Stämme einiger natürlich vorkommender, humanund tierpathogener Bakterien-, Viren-und Pilzarten. Diese können relativ leicht vermehrt und stabilisiert ("munitioniert") werden, sind besonders umweltresistent und bleiben dadurch in Aerosolform in der Luft für mehrere Stunden biologisch aktiv ( Tab. 1). Die Mehrzahl der hier aufgeführten Mikroorganismen gehört den Risikogruppen 3 oder 4 an. Es sind Erreger gefährlicher, d. h. lebensbedrohender und/ oder von Mensch zu Mensch übertragbarer Zoonosen, die in Deutschland normalerweise nicht oder sehr selten auftreten. Infektionen mit den meisten dieser Krankheitserreger verlaufen überwiegend klinisch manifest und weisen unbehandelt eine schlechte Prognose und hohe Letalität auf. Da es kaum ausreichend effiziente standardisierte Nachweisverfahren bzw. zertifizierte kommerzielle Tests gibt, ist eine Diagnostik nur in wenigen spezialisierten Referenz-, Konsiliar-und Expertenlaboratorien der Schutzstufen 3 oder 4 möglich. Wirksame Mittel zur kausalen Therapie und zur Immun-sowie Chemoprophylaxe sind entweder nicht oder nur begrenzt verfügbar. Außerdem könnten sie, wie im Pockenfall, erst bei Eintreten eines biologischen Schadensereignisses freigegeben werden. Aufgrund des hohen epidemischen Potenzials und der fehlenden oder mangelhaften Immunität der gefährdeten Bevölkerung sind schwerwiegende Auswirkungen auf Leben und Gesundheit sowie auf das soziale Gefüge (Panik, Kollaps des öffentlichen Gesundheitswesens) zu befürchten. Außer den in Tab Es ist wenig wahrscheinlich, dass biologische Anschläge rechtzeitig als solche erkannt werden. In der Praxis wird man erst durch ungewöhnliche Krankheitsausbrüche und Epidemien in der Bevölkerung oder auch in Tierbeständen aufmerksam werden. Ein Ausbruch stellt ein gehäuftes Auftreten von zwei und mehr Erkrankungs-oder Todesfällen in engem epidemiologischem Zusammenhang dar. Nicht selten bilden Ausbrüche die Anfangsphase von Epidemien. Ungewöhnlich sind Ausbrüche dann, wenn sie in ihren ökologischen, epidemiologischen, infektiologischen, pathophysiologischen und mikrobiologischen Merkmalen von der "Norm" abweichen. Als "Norm" gilt dabei das typische Auftreten einer Infektionskrankheit entsprechend dem bekannten saisonalen, geografischen und demografischen Verteilungsmuster und klinischen Erscheinungsbild. Sofern es keinerlei Drohungen oder Hinweise bezüglich eines bevorstehenden oder stattgefundenen biologischen Anschlags gibt, wird es bei einzelnen Erkrankungsfällen oder einer Häufung von Krankheitsfällen am Anfang kaum zu einem Verdacht auf einen B-Anschlag und demzufolge auch zu keinen Schutzvorkehrungen kommen. Somit wird in einem biologischen Wirkungsherd gerade das mit der Erstuntersuchung und dem Transport von Kranken betraute medizinische Personal unvorbereitet und ungeschützt als Kontaktpersonen besonders infektionsgefährdet sein. Unter diesen "First Respondern" kann es nach Ablauf der jeweiligen Inkubationszeiten ebenfalls zu Erkrankungen kommen. Erst durch die gemäß IfSG vorgeschriebene Meldung des Verdachtes einer plötzlichen Häufung von bisher unbekannten oder schweren Erkrankungs-oder Todesfällen können die zuständigen Gesundheitsbehörden alarmiert und auf einen ungewöhnlichen Krankheitsausbruch aufmerksam werden. Hierbei ist zunächst rasch zu klären, ob es sich um eine Infektionskrankheit oder Intoxikation handelt. In letzterem Falle würde die notfallmedizinische Versorgung wie bei chemischen Schadstoffen erfolgen. Bei Verdacht auf eine gefährliche Infektionskrankheit sind die Erkrankten umgehend stationär aufzunehmen und zu isolieren und unter Barrierebedingungen entweder behelfsmäßig oder in Sonderisoliereinheiten von Kompetenz-und Behandlungszentren zu versorgen. Auch Quarantänemaßnahmen oder Beobachtung sowie die postexpositionelle Chemoprophylaxe und ggf. auch Impfungen der Exponierten und Kontaktpersonen unter Berücksichtigung der mikrobiologischen Befunde sind in Betracht zu ziehen. Personal, das mit der Aufnahme, Sichtung, Dekontamination, Behandlung und dem Transport krankheitsverdächtiger B-Exponierter beauftragt wird, sollte umgehend mit geeigneter persönlicher Schutzausrüstung (z. B. Infektionsschutzset) und Prophylaxe versehen und als Kontaktpersonen beobachtet werden ( Tab. 4). Eine kalkulierte prä-oder post-expositionelle Prophylaxe (PEP) durch Breitbandantibiotika und deren Kombinationen und/oder Impfungen sind bei einigen B-Agenzien möglich und sollten für alle potenziellen B-Exponierten (= Ansteckungsverdächtigen) in einem biologischen Wirkungsherd sowie bei Kontaktpersonen zu Krankheitsverdächtigen grundsätzlich vorgesehen werden. Zugelassene Impfungen gibt es in der Regel nicht ( Tab. 3). Manche Impfstoffe sind als sogenannte "investigational new drugs" nur in den USA erhältlich und z. T. von der Food and Drug Ad-ministration zugelassen, aber in Deutschland nicht ohne weiteres verfügbar. Wenn keinerlei Informationen über den möglichen Erreger vorliegen, muss die Prophylaxe empirisch begonnen werden. Bei Erwachsenen mit mutmaßlichem Expositionsrisiko wird eine PEP mit Doxycyclin (2 × 100 mg/d p.o.) und/oder Gyrasehemmern (z. B. Ciprofloxacin 2 × 500 mg/d p.o.) empfohlen. Bei Kindern könnten Ciprofloxacin 20-30 mg/kg Körpergewicht oder Doxycyclin 5 mg/ kg Körpergewicht gegeben werden. Auf für Kinder weniger problematische Antibiotika kann übergegangen werden, wenn Empfindlichkeitsprüfungen deren Wirksamkeit belegt haben. Die Isolierung und Identifizierung des Erregers und das Erstellen eines Antibiogramms sind daher äußerst wichtig für die nachfolgende kausale Therapie bei einer trotz PEP eingetretenen Erkrankung und zur forensischen Aufklärung des Geschehens. Dazu sind entsprechende Probenmaterialien ( Tab. 4) so früh wie möglich zu entnehmen und der Untersuchungseinrichtung umgehend unter Einhaltung der gesetzlichen Vorschriften per Kurier zuzustellen. Im Falle des Verdachts auf einen unmittelbar erfolgten Bioterror-Anschlag sollte nach Möglichkeit eine behelfsmäßige Dekontamination der Exponierten (Wechsel der Kleidung, Duschen) entweder sofort am Ort des vermuteten Anschlags oder möglichst innerhalb von 24 Stunden zu Hause erfolgen. Krankheitsverdächtige, die innerhalb von 24 Stunden nach einer vermuteten B-Exposition in ambulanten oder stationären Behandlungseinrichtungen eintreffen, sollten ebenfalls behelfsmäßig dekontaminiert werden, um eine weitere Verschleppung von B-Agenzien zu verhindern. Bei einem Massenanfall von B-Geschädigten kann eine rasche Dekontamination einer großen Zahl von Menschen, die entweder stationär im Krankenhaus oder in Schutzräumen unterzubringen sind, notwendig werden. Diese ist nur möglich, wenn Krankenhäuser im Rahmen ihrer Seuchenalarmplanung Dekontaminationsbereiche vorgesehen haben. Gleichzeitig ist eine Sichtung sinnvoll, da man nicht das Schadenausmaß voraussehen kann und bei begrenzten Ressourcen möglichst vielen Opfern helfen sollte. Dabei gilt es, schnell diejenigen Patienten zu identifizieren, die einer sofortigen Isolierung und/oder dringenden Intensivbehandlung mit Beatmung bedürfen. Die Sichtungskriterien sind der Lage angepasst vom leitenden Notarzt festzulegen. Hier sollten auch Kinderärzte eingebunden werden, da sich sowohl die Pathophysiologie als auch das Erleben eines solchen Schadensereignisses bei Kindern wesentlich von dem der Erwachsenen unterscheidet. Baldmöglichst ist eine Falldefinition zu erstellen, um Ersthelfern und Ärzten das Erkennen der B-Gesundheitsstörung und die Differenzialdiagnostik zu erleichtern. Da im Prinzipiell kommt es nach einem B-Anschlag darauf an, alle "noch gesunden" B-Exponierten und Kontaktpersonen zu eventuell schon Erkrankten zu registrieren, zu dekontaminieren und mit einer postexpositionellen Prophylaxe (soweit verfügbar) zu versorgen. Diese potenziell Ansteckungsverdächtigen sind bis zum Ausschluss einer gefährlichen Infektionskrankheit möglichst außerhalb des B-Wirkungsherdes unter Quarantäne abzusondern, täglich medizinisch zu überwachen (mindestens zweimal täglich Temperaturmessung und Inspektion), um sie bei Erkrankung frühzeitig isolieren und behandeln zu können. Alle Krankheitsverdächtigen (= B-Verwundete) sollten je nach Syndrom in Kohorten zusammengefasst und, solange der Verdacht auf eine gefährliche übertragbare Krankheit besteht, räumlich isoliert und unter einem festgelegten Barriere-, Pathology of inhalational anthrax in 42 cases from the Sverdlovsk outbreak of 1979 Entscheidung der Kommission zur Änderung der Entscheidung 2119/98/EG des Europäischen Parlaments und des Rates und der Entscheidung 2000/96/EG hinsichtlich der in dieser Entscheidungen aufgeführten übertragbaren Krankheiten und zur Änderung der Entscheidung 2002/253/EG hinsichtlich der Festlegung von Falldefinitionen für übertragbare Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe (2005) Biologische Gefahren. Beiträge zum Bevölkerungsschutz. 2. Auflage Bichat clinical guidelines for bioterrorist agents An ounce of prevention is worth a pound of cure -shoring up the public health infrastructure to respond to bioterrorist attacks Management of patients with suspected viral hemorrhagic fever Biological and chemical terrorism: strategic plan for preparedness and response. Recommendations of the CDC Planning Workgroup Plague: a clinical review of 27 cases Is investment in bioterrorism research warranted? Facing the global challenges posed by biological weapons Management und Kontrolle lebensbedrohender hochkontagiöser Infektionskrankheiten Schutz vor lebensbedrohenden importierten Infektionskrankheiten. Struk turelle Erfordernisse bei der Behandlung von Patienten und antiepidemische Maßnahmen Erste medizinische und antiepidemische Maßnahmen bei Verdacht auf virales hämorrhagisches Fieber Clinical recognition and management of patients exposed to biological warfare agents Guideline for isolation precautions in hospitals The looming threat of bioterrorism The economic impact of a bioterrorist attack: are prevention and postattack intervention programs justifiable? Principles for emergency response to bioterrorism Weapons of mass destruction events with contaminated casualties It could happen here: facing the new terrorism Public Health assessment of potential biological terrorism agents Katastrophenmedizin. Sichtungskategorien und deren Dokumentation. Einigung von Experten aus Deutschland sowie einigen europäischen Staaten Laboratory safety practices associated with potential agents of biocrime or bioterrorism Medical aspects of chemical and biological warfare. Part I. Textbook of Military Medicine. Washington DC: Office of The Surgeon General Role of the hospital-based microbiology laboratory in preparation for and response to a bioterrorism event Die Proliferation von Massenvernichtungswaffen: Herausforderungen für Entscheidungsträger Management in der Behandlung von Patienten nach Einsatz biologischer Agenzien Medical Management of Biological Casualties Handbook, 4 th edn. United States Army Medical Research Institute of Infectious Diseases Biological and Chemical Terrorism. A Guide for Healthcare Providers and First Responders Death at Sverdlovsk: What have we learned? World Health Organization (1970) Health aspects of chemical and biological weapons: Report of a WHO group of consultants. Geneva, SwitzerlandZilinskas RA (1983) Anthrax in Sverdlovsk?