key: cord-0031655-lu9bsy10 authors: Wanke, Anne Thordis; Bruns, Florian title: Die Impfaktion gegen Poliomyelitis in der DDR im Jahr 1960 am Beispiel der Stadt Halle (Saale): Historische Erfahrungen und Probleme date: 2022-05-16 journal: Bundesgesundheitsblatt Gesundheitsforschung Gesundheitsschutz DOI: 10.1007/s00103-022-03538-7 sha: b418d5c7fe107e9aaac8b95ef8667ed040d41a41 doc_id: 31655 cord_uid: lu9bsy10 In the 1950s, the epidemic occurrence of infantile paralysis (poliomyelitis) posed major challenges to health systems worldwide. Since there was no causal therapy for the viral disease, exposure prophylaxis was of particular importance. Ultimately, it was only through the development of vaccines that infantile paralysis could be permanently reduced. In 1960, the Sabin–Tschumakow oral vaccine was administered in the former German Democratic Republic GDR for the first time in Germany. Within one year, this vaccine succeeded in almost completely eradicating polio in the GDR. The article uses unpublished archival material to trace the systematic vaccination campaign using the example of the then district capital Halle (Saale). There alone, 63,328 children and adolescents were immunized within three days in May 1960. With 78,085 vaccinees recorded in advance, this corresponded to a rate within the polio-vulnerable population group of around 81%. The sources show that the GDR’s government healthcare system and the principle of outreach vaccination contributed to the success of the vaccination campaign. Einleitung Vulnerable Bevölkerungsgruppen möglichst schnell und flächendeckend zu impfen, um die Ausbreitung einer hoch ansteckenden, potenziell tödlichen Viruserkrankung einzudämmen -vor dieser Herausforderung standen Ende der 1950er-Jahre die Gesundheitssysteme im geteilten Deutschland. Was später Geborenen kaum noch erinnerlich ist: Ähnlich wie viele andere Länder weltweit wurden die Bundesrepublik Deutschland (BRD) und die Deutsche Demokratische Republik (DDR) in den 1950er-Jahren wiederkehrend von Poliomyelitisepidemien heimgesucht, die jedes Jahr Hunderte Todesopfer forderten, die meisten davon Kinder und Jugendliche. Allein 1952 verzeichnete man in Westdeutschland 9750 Poliofälle, von denen 778 tödlich endeten [1] . In den USA ließ die Krankheit im selben Jahr über 21.000 Patienten mit bleibenden Lähmungen zurück [2] . Im Sommer 1953 war auch in der DDR ein größerer Ausbruch zu verzeichnen, mehr als 2600 Menschen erkrankten und 141 starben [1, 3] . In den Folgejahren kam es, vorwiegend in den Sommermonaten, sowohl in der DDR als auch in der Bundesrepublik immer wieder zu regionalen Polioepidemien. Die medizinhistorische Forschung hat sich bisher vor allem den gro-ßen Linien der Poliobekämpfung im geteilten Deutschland gewidmet und die jeweils unterschiedlichen gesundheitspolitischen Voraussetzungen und Konzepte herausgearbeitet [4, 5] . Auch der Wissens-und Praxistransfer durch den Eisernen Vorhang hindurch ist untersucht worden [6] . In jüngster Zeit ist zudem eine detaillierte Studie zur speziellen Situation der Poliobekämpfung im geteilten Berlin erschienen [7] . Wie aber sahen die konkreten Schutzmaßnahmen in der DDR aus? Wie wurden sie auf lokaler Ebene organisiert und umgesetzt? Hierüber ist bislang wenig bekannt. Insbesondere der Ablauf der 1960 in der DDR begonnenen ersten Polioschluckimpfungsaktion auf deutschem Boden ist ein Forschungsdesiderat. Im Folgenden gehen wir zunächst kurz auf die Geschichte der Poliomyelitis ein, wobei wir den Schwerpunkt auf die Epidemien der 1950er-Jahre und ihre Bekämpfung in der DDR legen. Dann rekonstruieren wir anhand unveröffentlichter Archivalien und zeitgenössischer Fachliteratur die Impfaktion gegen Poliomyelitis im Jahr 1960 am Beispiel der Stadt Halle (Saale), damals Hauptstadt des gleichnamigen DDR-Bezirks. Im Ergebnis können wir zeigen, dass die Eindämmung epidemischer Infektionskrankheiten auch das zentralistische Gesundheitssystem eines autoritär strukturierten Staates vor große Heraus-forderungen stellte. Schließlich gelang es jedoch mithilfe einer zügig organisierten und konsequent umgesetzten Impfkampagne, das Auftreten der Poliomyelitis in der DDR in bemerkenswert kurzer Zeit zu beenden. Im Jahr 1860 prägte der Orthopäde Jakob Heine (1800-1879) die Bezeichnung "spinale Kinderlähmung" für ein Krankheitsbild, das er einige Jahre zuvor erstmals beschrieben hatte. Der Name verweist bis heute darauf, dass insbesondere Kinder von der Erkrankung betroffen sind und dass es eine seltene, aber gefürchtete paralytische Verlaufsform mit teils irreversiblen schlaffen Lähmungen der Extremitätenmuskulatur gibt. [10] . In den Folgejahren setzte sich in europäischen Kliniken allmählich die maschinelle Überdruckbeatmung durch, etwa durch Einsatz des 1952 zur Marktreife gebrachten "Poliomaten" der Firma Dräger [11] . Neben knappen Beatmungskapazitäten beförderten insbesondere die Bilder stark gehbehinderter oder bis zum Hals in den Eisernen Lungen liegender Kinder die gesellschaftliche Angst vor der Poliomyelitis [12] . Ihr unberechenbarer Verlauf, fehlende Therapiemöglichkeiten sowie die möglichen Langzeitfolgen taten ein Übriges, um die Kinderlähmung in den 1950er-Jahren "zur gefürchtetsten Volksseuche der Jetztzeit, zum Schrecken der Mütter" zu machen ([13], S 7). Obwohl die Erkrankung statistisch gesehen in der großen Mehrzahl der Fälle leicht oder gar asymptomatisch verlief, beobachteten zeitgenössische Experten die Polioepidemien mit Sorge. Steigende Lebens-und Hygienestandards ließen eine stille Feiung im Kindesalter immer seltener werden, sodass sich Erstinfektionen mit Polioviren in spätere Lebensphasen verschoben. Da sich die Krankheit mit steigendem Alter häufiger klinisch manifestierte, stellte man sich auf stetig steigende Fallzahlen und schwerere Verläufe ein [14] . Daneben wurden eine Pathomorphose der Poliomyelitis bzw. eine erhöhte Pathogenität der auslösenden Viren diskutiert. So glaubten Ärzte eine "Kopfwanderung" der Krankheit aus-machen zu können, d. h. eine Zunahme spinal-oder bulbärparalytischer Erkrankungsformen mit Lähmung der Schluckund Atemmuskulatur und entsprechend hoher Letalität [15, 16] . Angesichts der steigenden Krankheitslast wurden international große Anstrengungen zur Bekämpfung der Kinderlähmung unternommen. Bereits der US-amerikanische Präsident Franklin D. Roosevelt (1882-1945), selbst infolge einer Polioerkrankung auf den Rollstuhl angewiesen [17] , hatte die Forschung zu dieser Krankheit in seiner Amtszeit stark gefördert. 1938 gründete Roosevelt die National Foundation for Infantile Paralysis, die mittels der "10-Cent-Bewegung" (March of Dimes) sowohl die Versorgung Erkrankter als auch die Forschung finanziell unterstützte. Nach dem Zweiten Weltkrieg ermöglichten Fortschritte bei der Anzüchtung von Viren die Herstellung größerer Mengen an Polioviren, was die Entwicklung eines Impfstoffs erleichterte. Zudem wiesen Forscher nach, dass 3 unterschiedliche Serotypen des Poliovirus existierten -eine weitere wichtige Erkenntnis für die Impfstoffentwicklung [8] . 1955 war schließlich mit der Zulassung des von Jonas Salk entwickelten Totimpfstoffs in den USA ein bedeutender Meilenstein der Poliomyelitisprophylaxe erreicht. Gegen Ende des Jahrzehnts stand mit dem von Albert Sabin (1906-1993) nahezu gleichzeitig entwickelten Lebendimpfstoff ein weiteres Vakzin zur Verfügung. Der oral verabreichte Lebendimpfstoff vermochte durch die Induktion einer mukosalen Immunität die Virusübertragung effektiver zu unterbrechen als der parenterale Salk-Impfstoff [18] . Weiterentwickelt durch den Virologen Michail Tschumakow [20] . Ab 1959 standen genügend Chargen aus sowjetischer Produktion zur Verfügung, sodass die Impfkampagne ausgedehnt und den Geburtsjahrgängen 1953 bis 1957 ein Impfangebot gemacht werden konnte. Doch ähnlich wie in der Bundesrepublik zeigte sich ein Großteil der Eltern in der DDR zurückhaltend: Nur 42 % der infrage kommenden Kinder nahmen an der freiwilligen Impfung teil [7] . Während die Salk-Immunisierung in der Bundesrepublik aufgrund von Bedenken verschiedener Behörden und Skepsis in der Bevölkerung auf der Stelle trat [4] , schritt das Impfen im ostdeutschen Gesundheitssystem kaum schneller voran. Neben der mangelnden Akzeptanz in der Bevölkerung war dort ein weiterer limitierender Faktor der Mangel an ärztlichem Personal. 1958 hatte die Abwanderung von Ärztinnen und Ärzten in die Bundesrepublik einen Höhepunkt erreicht: 927 Mediziner verließen allein in jenem Jahr die DDR in Richtung Westen [21] . Im Bezirk Halle herrschte Ende der 1950er-Jahre eine besonders geringe Arztdichte. Das entsprechend hohe Arbeitspensum der Mediziner ließ kaum Raum für kurzfristige Impfaktionen [19, 22] . Erst die im Frühjahr 1960 in der DDR eingeführte Schluckimpfung nach Sabin-Tschumakow vermochte der Polioimpfkampagne neuen Schwung zu verleihen, nicht zuletzt, weil ihre Verabreichung weniger ärztliches Personal band. Mit dieser Impfung erreichte die DDR binnen eines Jahres die fast vollständige Eradikation der Poliomyelitis und damit einen deutlichen Vorsprung vor der Bundesrepublik, wo man sich erst 1962 zu einer breiteren Anwendung der Schluckimpfung durchrang [23] . Angesichts fehlender kausaler Therapiemöglichkeiten spielten vorbeugende Maßnahmen bei der Bekämpfung der Poliomyelitis seit jeher eine zentrale Rolle. Für das stark prophylaktisch orientierte Gesundheitswesen der DDR war die Eindämmung der Poliomyelitis daher ein ideales Handlungsfeld, um seine Stärken unter Beweis zu stellen. Bevor eine Schutzimpfung gegen Polio zur Verfügung stand, konzentrierten sich die Behörden auf klassische seuchenpräventive Maßnahmen wie Aufklärung der Bevölkerung, Isolation der Erkrankten bzw. Quarantäne der Verdachtsfälle, Kontaktnachverfolgung sowie die Vermittlung von Hygieneregeln. Letztere zielten vor allem auf die Körperhygiene und die Desinfektion von Sanitäranlagen ab. Auch lokale Badeverbote wurden verhängt, da Teiche und Seen als typische Übertragungsorte von Polioviren galten. Die übergeordnete Steuerung dieser und weiterer Seuchenschutzmaßnahmen oblag der 1952 im Ministerium für Gesundheitswesen gebildeten Staatlichen Hygieneinspektion. Aufgabe dieser Einrichtung war es, staatliche Hygieneverordnungen zu erlassen, deren Umsetzung zu überwachen und die regionalen Hygieneinspektionen auf Bezirks-, Kreisund kommunaler Ebene anzuleiten. Die vorgesehenen Dienstwege und Abläufe waren allerdings Mitte der 1950er-Jahre wenig eingespielt, da die Bezirke der DDR erst seit Kurzem existierten. 1952 hatte die sozialistische Einheitspartei Deutschlands (SED) die 5 Länderregierungen aufgelöst und durch 15 Bezirke ersetzt, um so einen zentralistischen Einheitsstaat zu schaffen. In der Folgezeit hatte es sich als schwierig erwiesen, die Verwaltungsstellen in den Bezirken und Kreisen mit geeignetem Fachpersonal zu besetzen [24] . Die Polioepidemien der 1950er-Jahre fielen somit in eine Zwischenzeit, in der die Länder bereits aufgelöst, die Strukturen des zentralistischen SED-Staates aber noch nicht voll funktionsfähig waren. Poliomyelitis · Impfung · Sabin-Impfstoff · DDR · Medizingeschichte In the 1950s, the epidemic occurrence of infantile paralysis (poliomyelitis) posed major challenges to health systems worldwide. Since there was no causal therapy for the viral disease, exposure prophylaxis was of particular importance. Ultimately, it was only through the development of vaccines that infantile paralysis could be permanently reduced. In 1960, the Sabin-Tschumakow oral vaccine was administered in the former German Democratic Republic GDR for the first time in Germany. Within one year, this vaccine succeeded in almost completely eradicating polio in the GDR. The article uses unpublished archival material to trace the systematic vaccination campaign using the example of the then district capital Halle (Saale). There alone, 63,328 children and adolescents were immunized within three days in May 1960. With 78,085 vaccinees recorded in advance, this corresponded to a rate within the poliovulnerable population group of around 81%. The sources show that the GDR's government healthcare system and the principle of outreach vaccination contributed to the success of the vaccination campaign. Poliomyelitis · Vaccination · Sabin vaccine · German Democratic Republic · History of medicine Auf Grundlage der ministeriellen Anordnung begann im Stadtkreis Halle am 06.05.1960 die auf 3 Tage angelegte Impfkampagne. Zur Koordination wurde im Vorfeld ein Operativstab bei der Abteilung Gesundheits-und Sozialwesen des Rates der Stadt gebildet, welcher sich aus Vertretern des staatlichen Gesundheitswesens und der SED-nahen Massenorganisationen zusammensetzte. Unter Vorsitz des Kreisarztes Friedrich Cramer oblag diesem Gremium die Distribution des Impfstoffes an über 78.000 Kinder und Jugendliche [28] . Die Weisung, die Aktion müsse "wegen ihrer politischen Bedeutung und wegen der bereits jetzt angelaufenen Störversuche aus dem Westen als sozialistische Gemeinschaftsarbeit angesehen werden" und "nach Möglichkeit eine 100 %ige Beteiligung der vorgesehenen Impflinge . . . erreichen", offenbart die große politische Bedeutung der Impfkampagne für die DDR [29] . Angesichts der kurzen Vorlaufzeit von 4 Wochen erforderte die Vorbereitung der Immunisierungsaktion eine enge Abstimmung des Operativstabes mit der Universität, den Schulen und Betreuungseinrichtungen sowie den 3 großen Polikliniken der Stadt. Als besonders wichtig wurde die "Popularisierung" der Impfung angesehen. Plakate an Litfaßsäulen und in Einzelhandelsgeschäften sowie Aufrufe in der lokalen SED-Parteizeitung "Freiheit" sollten die Bevölkerung von der Teilnahme überzeugen. Die Appelle enthielten keinen Hinweis auf die Freiwilligkeit der Impfung, was in der DDR den Anschein einer staatlichen Anordnung erweckte. Deutlich gewarnt wurde dagegen vor den Risiken einer Infektion: "Nicht selten führt die Erkrankung trotz bester Behandlung zum Tode." Die Mütter adressierte man direkt: ". . . jede Mutti wird so verantwortungsbewußt ihren Kindern gegenüber sein und von ihr [der Impfung] Gebrauch machen" [30] . Bei der Umsetzung der Impfaktion profitierte der Operativstab von der engen Vernetzung des Gesundheitswesens mit dem Bildungswesen und den großen Industriebetrieben der Stadt. Staatlich angestellte Ärztinnen und Ärzte, Schwestern und Fürsorgerinnen betreuten ohnehin engmaschig die Kinder und Jugendlichen in den städtischen Bildungs-und Betreuungseinrichtungen, was die Durchführung der Impfungen erleichterte. Die Erfassung und Impfung berufstätiger junger Erwachsener gelang relativ leicht durch die zahlreichen betrieblichen Gesundheitseinrichtungen. Neben der Einrichtung von 42 Dauerimpfstellen, an die Impfwillige verwiesen werden konnten, wurden im Stadtkreis Halle überdies 400 mobile "Impftrupps" gebildet, die Impfungen im Rahmen von Hausbesuchen vornahmen. Ein "Impftrupp" bestand aus 2 Personen, von denen eine den Impfstoff verabreichte ("Tropfer") und die zweite den Vorgang dokumentierte ("Schreiber") -ein Vorgehen, das sich in den Vorjahren während der sowjetischen Impfkampagne bewährt hatte. Die orale Verabreichung ermöglichte den Verzicht auf ärztliches Personal; für die "Tropfer" waren lediglich medizinische Vorkenntnisse erwünscht. Entsprechend waren die dafür rekrutierten Freiwilligen zumeist Pflegekräfte, Auszubildende und Angestellte der Gesundheitseinrichtungen sowie Medizinstudierende. Durch mündliche Unterweisungen sowie einen Handzettel mit den wichtigsten Informationen wurden die Impftrupps auf ihren Einsatz vorbereitet. Zusätzlich übten die "Tropfer" vor Beginn der Aktion das Pipettieren des Impfstoffes mit Wasser [31] . Dass es gelang, ausreichend Freiwillige zu mobilisieren, war für den Halleschen Kreisarzt in mehrfacher Hinsicht ein Erfolg. Zum einen ließ sich damit die gesellschaftliche Akzeptanz der Impfkampagne demonstrieren, zum anderen konnte so auf den Einsatz betrieblicher Gesundheitshelfer verzichtet werden. Letzteres hätte "erhebliche Ausfälle in der Produktion" nach sich gezogen [28] . Um die Impflinge möglichst lückenlos zu identifizieren, erhielten die Impftrupps die volkspolizeiliche Genehmigung, Einsicht in die Hausbücher nehmen zu dürfen, in denen in der DDR alle Bewohner eines Hauses verzeichnet sein mussten [32] . Insgesamt konnten von den 78.085 im Stadtkreis erfassten Impflingen im Kindes-und Jugendalter innerhalb von 3 Tagen 63.328 erfolgreich geimpft werden, diese Impfrate entsprach 81 % und damit in etwa dem DDR-Durchschnitt. Ein Ergebnis, das "durchaus befriedigen" könne, wie Kreisarzt Cramer festhielt [28] . Etwa 5000 Impflinge (6,5 %) wurden aus gesundheitlichen Gründen zurückgestellt, 881 (1,1 %) verweigerten die Teilnahme an der Impfung. Rund 11 % konnten an ihrer Wohn-oder Arbeitsstätte nicht angetroffen werden und entgingen so der Impfaktion. Im Abschlussbericht wurde dies mit dem beginnenden Wochenende erklärt, an dem sich zum Beispiel auch viele Studierende nicht in Halle aufhielten. Zusätzlich zu den Kindern und Jugendlichen hatte man als gefährdet eingestufte Erwachsene immunisiert, darunter über 5800 Angestellte des Gesundheits-und Sozialwesens sowie 890 schwangere Frauen. Über den Stadtkreis Halle hinaus betrachtet verlief die Immunisierungsaktion noch erfolgreicher. In der Woche vom 04.-11.05.1960 erhielten im Bezirk Halle von 590.340 infrage kommenden Kindern und Jugendlichen 536.124 oder 90,8 % die Schluckimpfung, ebenso wie 17.636 gefährdete Erwachsene. Dies lag über der durchschnittlichen Teilnahmequote in der DDR. Im Juni folgte die ge-meinsame Impfung gegen die Typen II und III der Poliomyelitiserreger, bei der auch bestehende Impflücken gegen den Typ I weiter geschlossen werden konnten [33] . Probleme traten den Archivquellen zufolge nur vereinzelt auf. So bemängelte Kreisarzt Cramer in seinem Abschlussbericht an das Bezirkshygiene-Institut, dass es in der Stadt trotz entsprechender Anweisung zu wenig Aushänge zur Bekanntmachung der Impfaktion gegeben habe: "Man sah in den Schaufenstern hauptsächlich Plakate für Zirkus, Varieté und Radrennen, aber sehr wenige, die für die Immunisierungsaktion warben" [28] . Cramer wies ferner darauf hin, dass das im nahe gelegenen Chemiekombinat Bitterfeld hergestellte Wofasept-Seifengelee zur Händedesinfektion nicht ausreichend zur Verfügung stand. Der Deut-schenHandelszentrale (DHZ)Pharmazie war es nicht gelungen, die angeforderte Menge kurzfristig bereitzustellen. Der Sabin-Tschumakow-Impfstoff selbst, in Moskau als Konzentrat hergestellt und im Berliner Institut für Immunbiologie verdünnt, war in 8 ml fassende Fläschchen abgefüllt worden. Diese waren einerseits ungleichmäßig gefüllt, was zur Irritation der an der Impfung Beteiligten führte, andererseits reichten sie quantitativ nicht aus, um im Stadtkreis Halle die stationären Impfeinrichtungen und mobilen Impftrupps gleichermaßen zu versorgen [27, 28] . Zugunsten der Durchimpfung der Schulkinder musste daher die Arbeit der Impftrupps am zweiten Tag der Aktion eingeschränkt werden. Impfstoffchargen, die Halle unterstützend aus dem benachbarten Bezirk Leipzig erhalten hatte, trafen am Tag ihres Verfallsdatums ein und enthielten zum Teil bereits getrübte Flüssigkeit. Die lapidare Anweisung, von diesen Chargen dann eben 4 anstatt wie üblich 2 Tropfen zu geben, "trug nicht dazu bei, das Vertrauen zur ImmunisierungsaktiongegenKinderlähmung zu festigen", kritisierte der Kreisarzt in seinem Abschlussbericht an das Bezirkshygiene-Institut Halle [28] . Weiterhin verwies er auf die "mangelnde Impfbereitschaft" einiger Personengruppen. So ließen sich von den zur Impfung aufgerufenen Studierenden der Univer-sität Halle-Wittenberg nur knapp 50 % immunisieren. An die Impfaktion selbst schloss sich eine genaue Überwachung des Gesundheitszustandes der Impflinge an. Als im Stadtkreis Halle bei einigen Schulkindern unspezifische Krankheitssymptome auftraten, wurden diese umgehend untersucht. Hinweise auf einen Zusammenhang der Erkrankungen, die nach Angaben des Kreisarztes "leichterer Art" waren, ergaben sich nicht [28] . Schwerwiegendere Verdachtsfälle wären dem Bezirkshygienearzt und damit der Staatlichen Hygieneinspektion zu melden gewesen. Da bekannt war, dass die Lebendvakzine bei manchen Impflingen eine Polioerkrankung auszulösen vermochte, wurde dieser Aspekt besonders überwacht. Im Nachgang der Hallenser Impfkampagne vom Mai 1960 wurden weder ernste Nebenwirkungen noch Impfpoliomyelitiden gemeldet. Ab 1961 galt die Weisung des Ministeriums für Gesundheitswesen, bei einem innerhalb von 30 Tagen nach Impfung auftretenden Verdacht auf Impfpolio sowohl bei den Impflingen als auch bei deren Kontaktpersonen Blut-und Stuhlproben in festgelegten Abständen zu entnehmen und diese durch das Institut für Immunbiologie in Berlin auswerten zu lassen [34] . Folgt man einer 1981 publizierten Auswertung von Sieghart Dittmann (*1934), so wurden im Zeitraum 1960-1975 in der DDR 63 atypische Impfverläufe anerkannt, von denen 16 die Kriterien einer Impfpoliomyelitis gemäß Weltgesundheitsorganisation (WHO) erfüllten [35] . [5] . Allerdings wurde staatlicherseits darauf Wert gelegt, dass alle potenziellen Impflinge den Impftermin zur ärztlichen Vorstellung und Beratung wahrnahmen [37] . Wer nicht erschien, erhielt eine Vorladung zum Kreisarzt. Fälle, in denen Impfungen unter Zwang vorgenommen wurden, lassen sich den Akten nicht entnehmen. Die Durchführung der Impfung mittels koordinierter Immunisierungsaktionen wie der hier vorgestellten im Bezirk Halle wurde in den Folgejahren beibehalten [34] . So waren Schüler und Werktätige über das gut ausgebaute Schul-und Betriebsgesundheitswesen niedrigschwellig zu erreichen. Die in den 15 DDR-Bezirken gleichzeitig und koordiniert stattfindende Immunisierungsaktion profitierte ebenso von der zentralistischen Struktur des staatlichen Gesundheitswesens wie die nachträgliche Überwachung der geimpften Personen. Die aufsuchenden Impftrupps konnten über die sogenannten Hausbücher die in einem Wohngebäude lebenden Personen identifizieren, womit ein Überwachungsinstrument genutzt wurde, das charakteristisch für den erleichterten Zugriff der DDR-Behörden auf den einzelnen Bürger war. Dass aufsuchende Impfungen bei ausgewählten Bevölkerungsgruppen auch in einem demokratischen Rechtsstaat umsetzbar sind, hat die jüngste Gegenwart mit den mobilen COVID-19-Impfteams bewiesen [38] . Bedenklich mutet es nach heutigen Transparenzmaßstäben an, dass die DDR-Bürger im Rahmen der Impfaktion des Jahres 1960 nicht explizit darüber informiert wurden, dass es sich zu diesem Zeitpunkt um eine freiwillige Impfung handelte. Unsere historische Untersuchung zeigt aber auch, dass selbst in einem autoritären Staat wie der DDR eine systematisch angelegte Impfkampagne an Grenzen stieß. Impfstoff war nicht immer in ausreichender Zahl und Qualität verfügbar, nicht alle Bevölkerungsgruppen ließen sich gleichermaßen motivieren und eine lokale Impfquote von mehr als 90 % war eher die Ausnahme als die Regel. Weitere Forschungen sind notwendig, um die hier beschriebene Polioimpfaktion mit anderen Impfkampagnen in der DDR oder darüber hinaus vergleichen zu können. Die in diesem Artikel enthaltenen Bilder und sonstiges Drittmaterial unterliegen ebenfalls der genannten Creative Commons Lizenz, sofern sich aus der Abbildungslegende nichts anderes ergibt. Sofern das betreffende Material nicht unter der genannten Creative Commons Lizenz steht und die betreffende Handlung nicht nach gesetzlichen Vorschriften erlaubt ist, ist für die oben aufgeführten Weiterverwendungen des Materials die Einwilligung des jeweiligen Rechteinhabers einzuholen. Weitere Details zur Lizenz entnehmen Sie bitte der Lizenzinformation auf http://creativecommons.org/ licenses/by/4.0/deed.de. Statistik meldepflichtiger übertragbarer Krankheiten. Vom Beginn der Aufzeichnungen bis heute Vaccination in America. Medical science and children's welfare Die Entwicklung der Poliomyelitis im Raum der Deutschen Demokratischen Republik Gesundheitspolitik in der Nachkriegszeit. GroßbritannienunddieBundesrepublik Deutschland im Vergleich Immunisierte Gesellschaft. Impfen in Deutschland im 19. und 20. Jahrhundert. Vandenhoeck & Ruprecht Between east and west: polio vaccination across the iron curtain in cold war Hungary Medizinische Verflechtung und Systemkonkurrenz im Kalten Krieg: Poliobekämpfung im geteilten Berlin A history of poliomyelitis Milestones in early poliomyelitis research (1840 to 1949) The physiological challenges of the 1952 Copenhagen poliomyelitis epidemic and a renaissance in clinical respiratory physiology Künstliche Dauerbeatmung. Ein Beitrag zur Klinik und Therapie der Atem-und Kreislaufstörungen bei der Poliomyelitis Braces, wheelchairs, and iron lungs: the paralyzed body and the machinery of rehabilitation in the polio epidemics Epidemische Kinderlähmung: Poliomyelitis Epidemiologie der Poliomyelitis Zum Wandel der Poliomyelitis Franklin Delano Roosevelt: the diagnosis of poliomyelitis revisited Systematic review of mucosal immunity induced by oral and inactivated poliovirus vaccines against virus shedding following oral poliovirus challenge. PLoSPathog8:e1002599 VorbeugendeSeuchenbekämpfung durch Impfen im mitteldeutschen Raum. Akademie für Staatsmedizin Zur Frage der Poliomyelitis-Schutzimpfung in Epidemiezeiten Die beste Prophylaxe ist der Sozialismus". Ärzte und medizinische Hochschullehrer in der SBZ/DDR 1945-1961 Entwicklung des Gesundheits-und Sozialwesens im Bezirk Halle in vier Jahrzehnten (undatiert). Landesarchiv Sachsen-Anhalt (LASA) Der Kampf gegen die Poliomyelitis -die Ausrottung einer Zivilisationsseuche Die Auflösung der Länder in der SBZ/DDR. Von der deutschen Selbstverwaltung zum sozialistisch-zentralistischen Einheitsstaat nach sowjetischem Modell 1945-1952 Ein historischer Rückblick: Fachausschuß für Poliomyelitis und Nationales Komitee der DDR. Zur Erforschung und Bekämpfung der Poliomyelitis und verwandter Erkrankungen Poliomyelitisbekämpfunginder Tschechoslowakei. Volk und Gesundheit, Berlin 27. Ministerium für Gesundheitswesen Stadtarchiv (StA) Halle, A 3.25, Nr 185 StA Halle, A 3.15, Nr 153,Bd 1 29 Schützt Euch gegen Kinderlähmung") sowie Nr 102 Hygiene und Seuchenbekämpfung 1957-1961, Handzettel für Immunisierungstrupps (undatiert). LASA Magdeburg, M 501 Freiheit, Nr 103 Impfung gegen die Kinderlähmung Typ II und II im Bezirk Halle Rundschreiben vom 16.01.1962 zur oralen Immunisierung gegen Poliomyelitis. LASA Magdeburg, M 501 Auswertung der 1946-1976 in der DDR erfaßten anormalen Reaktionen und Komplikationen nach Impfungen gegen Pocken Gesundheitswesen in der DDR. Holzapfel Handlungsleitfaden zur auf-suchendenCOVID-19-ImpfungdurchMobileImpfteams in stationären Einrichtungen