key: cord-0017233-lagwfwbv authors: Marx, G.; Hoffmann, F.; Walcher, F. title: Überversorgung und Übertherapie in der Intensivmedizin – wichtige Themen in einer herausfordernden Zeit, die einen differenzierten Diskurs benötigen date: 2021-05-06 journal: Med Klin Intensivmed Notfmed DOI: 10.1007/s00063-021-00822-3 sha: 9cb576e1cd274928d9d58deef0311542aa93c40f doc_id: 17233 cord_uid: lagwfwbv nan Die Sektion "Ethik der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensivund Notfallmedizin (DIVI)" hat sich eines schwierigen und komplexen Themas angenommen -Überversorgung in der Intensivmedizin. Hierfür gebührt den Mitgliedern der Sektion unter der Leitung des DIVI-Past-Präsidenten Uwe Janssens großer Dank und Anerkennung. Andrej Michalsen und Kollegen gehen in ihrem umfassenden Positionspapier sehr differenziert auf die Faktoren einer Überversorgung in der Intensivtherapie ein. Es ist den Autoren gelungen, die Komplexität des Themas mit vielfältigen Einzelheiten kompetent darzulegen und viele relevante Erkenntnisse zu integrieren. Dieses Verständnis ist ohne Zweifel die Grundvoraussetzung, um dem einzelnen schwerkranken Intensivpatienten in der klinischen Praxis gerecht zu werden, um zeitgerecht den klinisch erforderlichen und individuell gewünschten Therapiebedarf abschätzen und erfolgreich umsetzen zu können. Besonders gelungen sind den Autoren im 2. Teil des Positionspapiers die Analyse des Erkennens und Bewertens einer möglichen Überversorgung und die konkreten Empfehlungen im Kapitel 4 zur Optimierung der intensivmedizinischen Behandlung auf der Ebene des Behandlungsteams, auf Ebene der Krankenhausleitungen und sogar auf gesundheitspolitischer Makroebene. DasPositionspapierverwendetdie Begriffe Überversorgung und Übertherapie deckungsgleich. Dies ist interessanterweise als Vorgehensweise in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung nicht unüblich. Es ist sehr wichtig, dass der Begriff Überversorgung sich in diesem Positionspapier nicht auf die strukturelle Überversorgung in der Intensivmedizin mit zu vielen Intensivkapazitäten in Deutschland bezieht, wie er in der Bertelsmann-Studie [1] moniert worden ist, sondern immer eine Überversorgung der individuellen Therapie gemeint ist. Für den zukünftigen Diskurs erscheint esbesser,klarzwischenÜbertherapie und Überversorgung zu unterscheiden, um Missverständnisse zu vermeiden. Dabei sollten mit Überversorgung ausschließlich die strukturellen Probleme bezeichnet werden. Das Thema Übertherapie des individuellen Intensivpatienten ist aktuell wichtig und richtig, insbesondere auch im Kontext der Coronapandemie mit einer Vielzahl von schwerkranken COVID-19-Intensivpatienten, die oftmals als extrakorporalen Organersatz eine ECMO zum Überleben benötigen. Bei dieser Indikation wird es sehr anschaulich, dass Intensivmediziner durch die rasante Weiterentwicklung der technischen Möglichkeiten ihren Patienten immer mehr Optionen anbieten können und neben dem über allem stehenden Patientenwillen (soweit ermittelbar in der Akutsituation) viele Faktoren berücksichtigen müssen. Hierbei sind das Lebensalter, Komorbiditäten, aktueller klinischer Zustand, Dauer der bisherigen invasiven und nichtinvasiven Beatmung sowie radiologische CT-Diagnostik zu bedenken, um für die ihnen anvertrauten schwerkranken Patienten die individuell richtigen, patientenzentrierten Therapieentscheidungen treffen zu können. Das heißt, die Anwendung der ECMO-Therapie ist keinesfalls automatisch eine Übertherapie, sondern kann sehr sinnvoll sein. Jede Intensivmedizinerin weiß aber auch, dass das differenzierte Vorgehen im klinischen Alltag häufig sehr schwierig ist. Der fließende Übergang von der Intension eines kurativen Ansatzes hin zu einer sinnlos lebenserhaltenden Therapie im Sinne einer Übertherapie ist für das individuell eingebundene Team der Intensivmedizin im Kontext der Erwartungshaltung der Angehörigen eine tägliche Herausforderung. Seit Einführung des Patientenrechtegesetzes hat sich auch in der Intensivmedizin sehr viel entwickelt, Patientenwille, Vorsorgevollmachten und Therapiezieldiskussionen und -festlegungen sind umfangreich in den intensivmedizinischen Alltag eingezogen. Das Positionspapier regt hier zusätzlich zur Aufmerksamkeit an, dass wir Intensivmediziner das The-ma Übertherapie auch in die tägliche Diskussion integrieren, um es zur Routine werden zu lassen -ein sehr wichtiger Aspekt. Der Gedanke im Positionspapier, dass Entscheidungen für den Umfang intensivmedizinischer Maßnahmen auch ökonomisch getriggert werden, muss auf der Ebene des intensivmedizinischen Behandlungsteams differenziert betrachtet werden. Die Indikation für eine Operation wird vom Chirurgen und für eine Intervention von den medizinischen, neurologischen oder anderen verantwortlichen Fachrichtungen getroffen [2, 3] . Doch für die intensivmedizinische Folgebehandlung muss sich auch der Intensivmediziner einbringen. Besonders in der operativen Intensivmedizin ist daher die gemeinsame Diskussion über Therapieziel und potenzielle Übertherapie zwischen Intensivmedizinern und den Behandlern eine wichtige Aufgabe. Es ist dabei entscheidend zu erkennen und zu akzeptieren, dass es sich hier um einen längeren Lernprozess handelt, bis das notwendige gegenseitige Verständnis und Vertrauen sich entwickeln kann. Die Aufgabe der Intensivmediziner ist die Versorgung von Notfallpatienten und von Patienten nach umfangreichen Operationen und Interventionen, die oft erst durch die moderne Intensivmedizin ermöglicht worden sind. Unser Ziel als Intensivmediziner ist es, unsere schwerkranken Patienten durch intensivmedizinische Therapie möglichst wieder zurück ins Leben zu bringen. Aber es muss der Gefahr einer möglichen Übertherapie auch auf der Behandlungsebene entscheidend mehr Aufmerksamkeit gewidmet werden, da Übertherapie in der Intensivmedizin insbesondere bei Pflegekräften nicht zuletzt auch die Entwicklung eines Burn-outs begünstigt und letztlich den Berufsausstieg verstärkt. Um dieses zu verhindern, hat die DIVI gemeinsam mit der DGF einen Katalog mit konkreten Forderungen zur Verbesserung der Personalsituation in der Intensivpflege vorgelegt [4] . Die Bertelsmann Stiftung (Hrsg) (2019) Simulation und Analyse einer Neustrukturierung der Krankenhausversorgung am Beispiel einer Versorgungsregion in Nordrhein-Westfalen. 1. Auflage Gemeinsame Empfehlungen zur Ausstattung und Organisation interdisziplinärer operativer Intensiveinheiten der Deutschen Gesellschaft für Anästhesiologie und Intensivmedizin und des Berufsverbandes Deutscher Anästhesisten sowie der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie und des Berufsverbandes der Deutschen Chirurgen Gemeinsame Empfehlung zur Organisation der Intensivmedizin der Deutschen Gesellschaft für Anästhesiologie und Intensivmedizin und des Berufsverbandes Deutscher Anästhesisten sowie der Deutschen Gesellschaft für Stellungnahme der DGF und der DIVI zur Stärkung und Zukunft der Intensivpflege in Deutschland Machen Sie sich fit mit dem "Facharzt-Training Innere Medizin"!