key: cord-0015048-4p4qgblq authors: Fleischmann-Struzek, C.; Schwarzkopf, D.; Reinhart, K. title: Inzidenz der Sepsis in Deutschland und weltweit: Aktueller Wissensstand und Limitationen der Erhebung in Abrechnungsdaten date: 2021-01-28 journal: Med Klin Intensivmed Notfmed DOI: 10.1007/s00063-021-00777-5 sha: d065fee0417310cba9c817ef70e593bd1c6501ec doc_id: 15048 cord_uid: 4p4qgblq Sepsis is the life-threatening organ dysfunction caused by a dysregulated host response to infection. With an estimated 48.9 million patients being affected by sepsis every year, sepsis is one of the most common diseases worldwide. Approximately 20% of global deaths are considered as sepsis-related. In Germany, a study based on nationwide hospital discharge data of almost all German hospitals found a sepsis incidence of 158 per 100,000 inhabitants. Estimates based on clinical patient data from other industrialized countries were 780/100,000 (Sweden) and 517/100,000 (USA). However, the comparability of incidence rates is limited due to the different data sources and sepsis case identification strategies used. In all, 41.7% of sepsis patients died in hospital, and 17.9% of intensive care unit patients are affected by sepsis. Case identification of sepsis in health claims data has a low sensitivity; therefore, it is likely that sepsis incidence is underestimated using these data, as many sepsis cases are not coded as such. For the purpose of epidemiological surveillance, health claims data should be complemented by other data sources such as registries or electronic health records. Die Sepsis ist die schwerste Verlaufsform einer Infektionserkrankung, die sich aus jedem Infektionsfokus entwickeln kann. Sie kann durch Viren, Bakterien, Pilze oder Parasiten hervorgerufen werden und Patientinnen und Patienten jeder Altersstufe betreffen [1] . Nach einer Weiterentwicklung der Sepsisdefinition ist das Vorliegen von Kriterien des sog. systemischen inflammatorischen Response-Syndroms (SIRS) nicht mehr Voraussetzung für die Diagnose einer Sepsis, sondern das Auftreten einer neuen Organdysfunktion, die durch die Wirtsantwort des Körpers auf eine Infektion ausgelöst wird [2] . Die schwerste Verlaufsform der Sepsis ist der septische Schock (. Tab. 1). Die Weltgesundheitsorganisation (World Health Organization, WHO) geht davon aus, dass auch bei ca. 5 % der an COVID-19 erkrankten Patienten eine Sepsis vorliegt und entsprechend therapiert werden muss [3] . Mit einer Sepsisdiagnose ist nicht nur ein erhöhtes Mortalitätsrisiko verbunden, Sepsisüberlebende haben auch ein im Vergleich zur Normalbevölkerung 3,3-fach erhöhtes Risiko, unter Einschränkungen im alltäglichen Leben zu leiden [5] . Dies kann diverse Einschränkungen oder neu aufgetretene Morbiditäten beinhalten wie beispielsweise ein kognitives oder neurologisches Defizit, motorische Einschränkungen oder eine Beatmungs-oder Dialysepflichtigkeit. Die mit den tatsächlichen Sepsiszahlen in den USA einhergehenden jüngsten Schätzungen der Behandlungskosten betragen jährlich 62 Mrd. USD [6] . Sepsis ist eine der häufigsten Erkrankungen und Todesursachen weltweit [7] . Die WHO hat daher 2017 in einer Sepsisresolution gefordert, in allen Mitgliedsstaaten nationale Maßnahmen zu initiieren, die zurVermeidung vonSepsis, zur Verbesserung ihrer Früherkennung und Diagnose und zur besseren Behandlung von Sepsispatienten führen können [8] . In Deutschland hat aktuell der Gemeinsame Bundesausschusses (G-BA) das Institut für Qualität und Transparenz im Gesundheitswesen (IQTIG) mit der Entwicklung eines Qualitätssicherungsverfahrens zur Diagnostik, Therapie und Nachsorge der Sepsis beauftragt [9] . Weil Grundlage für eine Verbesserung der Versorgung verlässliche Daten zur Krankenhaus-und Bevölkerungsinzidenz der Sepsis sind, die bisher aus vielen Ländern fehlen, fordert die WHO in ihrer Resolution auch, Sepsis besser im internationalen Klassifizierungssystem (ICD) zu dokumentieren. Die Sepsisinzidenz ist für die Mehrzahl der Länder unbekannt [10] . In Industrieländern werden zunehmend Routinedaten, konkret Krankenhausabrechnungsdaten, zur Erhebung der Sepsisinzidenz verwendet [10] . International [11] [12] [13] und auch in Deutschland [14] Selektive Literaturrecherche zur Identifikation systematischer Übersichtsarbeiten und Erhebungen des Global-Burdenof-Disease-Reports zur Inzidenz der Sepsis. Für Deutschland werden Studien dargestellt, die in einer aktuellen systematischen Übersichtsarbeit und Metaanalyse zur weltweiten Sepsisinzidenz identifiziert wurden [15] . Die Schätzung der weltweiten Sepsisinzidenz ist mit vielen Unsicherheiten verbunden, da Studien zur Sepsisinzidenz bis auf wenige Ausnahmen nur [23] . Die IHME-Studie schätzt auf Basis der neuen Sepsisdefinition 279.000 Sepsisfälle pro Jahr in Deutschland [7] . Die Kosten für die Behandlung von Patienten mit kodierter Sepsis wurden im Jahr 2013 durch das Bundesversicherungsamt auf durchschnittlich 27.468 € pro Patient geschätzt. Basierend auf diesen Daten lassen sich für die stationäre und ambulante Behandlung von Patienten mit Sepsis jährliche Gesundheitskosten von 7,7 Mrd. € extrapolieren [24] . Ein zunehmender Anteil von Beobachtungsstudien nutzt Routinedaten, das heißt beispielsweise Krankenhausabrechnungsdaten (DRG-Statistik, Daten nach § 21 Krankenhausentgeltgesetz) oder Daten der gesetzlichen Krankenkassen zur Erhebung der Sepsisinzidenz. Die DRG-Statistik stellt eine Vollerhebung der Entlassdiagnosen deutscher Krankenhäuser dar, was die Möglichkeit bietet, die Inzidenz der Sepsis in einem großen, unselektierten Patientenkollektiv unter Verwendung bereits verfügbarer Daten ohne einen mit prospektiven Studien vergleichbaren Aufwand zu erfassen und insbesondere auch nichtintensivstationsbehandelte Patienten in die Auswertungen einzubeziehen. Es bestehen keine Zweifel daran, dass diese Daten Limitierungen haben. Sie werden für Abrechnungs-, nicht für Forschungszwecke erhoben und sind daher prinzipiell anfällig für externe Einflussfaktoren beispielsweise monetärer Art. Unter dem Eindruck, dass in den vergangenen 10-15 Jahren die aus administrativen Daten abgeleitete Sepsisinzidenz in den USA jährlich um ca. 5-10 % anstieg, gab es auch in den USA Diskussionen darüber, dass es aus finanziellen Gründen eine Überkodierung von Sepsis in Krankenhausentlassungsdiagnosen geben könnte [11] . Zum besseren Verständnis des Verhältnisses der Sepsisfallzahlen nach ICD-Diagnosen zu den (unbekannten) realen Sepsiszahlen müssen die Sensitivität und Spezifität der ICD-Diagnose betrachtet werden. Diese wurden beispielsweise in Studien durch die Med Klin Intensivmed Notfmed https://doi.org/10.1007/s00063-021-00777-5 © Springer Medizin Verlag GmbH, ein Teil von Springer Nature 2021 Sepsis · Inzidenz · Epidemiologie · Sterblichkeit · Häufigkeit · Routinedaten · Internationaler Vergleich Sepsis is the life-threatening organ dysfunction caused by a dysregulated host response to infection. With an estimated 48.9 million patients being affected by sepsis every year, sepsis is one of the most common diseases worldwide. Approximately 20% of global deaths are considered as sepsis-related. In Germany, a study based on nationwide hospital discharge data of almost all German hospitals found a sepsis incidence of 158 per 100,000 inhabitants. Estimates based on clinical patient data from other industrialized countries were 780/100,000 (Sweden) and 517/100,000 (USA). However, the comparability of incidence rates is limited due to the different data sources and sepsis case identification strategies used. In all, 41.7% of sepsis patients died in hospital, and 17.9% of intensive care unit patients are affected by sepsis. Case identification of sepsis in health claims data has a low sensitivity; therefore, it is likely that sepsis incidence is underestimated using these data, as many sepsis cases are not coded as such. For the purpose of epidemiological surveillance, health claims data should be complemented by other data sources such as registries or electronic health records. Sepsis · Incidence · Epidemiology · Mortality · Occurrence · Health claims data · International comparison systematische Durchsicht von Krankenakten und die Identifikation von "echten" Sepsisfällen basierend auf den klinischen Sepsiskriterien durch qualifizierte Ärzte untersucht. ICD-Diagnose (positiv vs. negativ) und echte Sepsis können dann abgeglichen werden, um Sensitivität und Spezifität zu berechnen. . Abb. 1 gibt die Ergebnisse einer solchen Studie wieder, die am Universitätsklinikum Jena durchgeführt wurde [25] . Aus der Tatsache, dass nur 56 % codierter Sepsisfälle auch nach Aktendurchsicht eine Sepsis hatten, könnte fälschlicherweise gefolgert werden, dass die Zahl an Sepsisfällen durch ICD-Diagnosen überschätzt wird. Hierbei würde man jedoch vernachlässigen, dass 75 % Auch aus der IHME-Studie wird die Unterschätzung der tatsächlichen Sepsisinzidenz auf Basis von ICD-codierten Entlassdiagnosen und Todesursachen deutlich. Dies zeigt sich beim Vergleich mit den Sepsisfallzahlen aus Ländern, aus denen auch Daten basierend auf Auswertungen von Krankenakten vorliegen. So fanden sich auf dieser Basis für die USA 1,7 Mio. Sepsisfälle [12] , während die IHME-Studie lediglich von 903.000 Fällen und 174.000 Todesfällen ausgeht. Ähnliche Diskrepanzen bestehen für Schweden zwischen der oben zitierten Studie basierend auf Krankenakten [27] und den IHME-Zahlen. Insgesamt gibt es keinen objektiven Grund zu der Annahme, dass die Sepsishäufigkeit in den USA oder Schweden, die über Aktenanalysen bzw. elektronische Krankenakten erfasst wurden, höher ist als in Deutschland. Mit großer Wahrscheinlichkeit ist aufgrund der mangelhaften Kodierung der Sepsis in administrativen Abrechnungsdaten derzeit in Deutschland von einer erheblichen Unterschätzung der Sepsis auszugehen. Die Zunahme der Sepsisinzidenz, die sich in der deutschen DRG-Studie und auch in vielen anderen Studien basierend auf Routinedaten zeigt, ist wahrscheinlich vor allem auf eine gesteigerte Aufmerksamkeit und verbesserte Diagnostik der Sepsis zurückzuführen, denn der Anstieg der im gleichen Zeitraum im ICD dokumentierten Infektionskrankheiten betrug jährlich nur 1,6 %. Es gibt aber auch mögliche objektive Gründe wie den demographischen Wandel und den medizinischen Fortschritt, der mit einem Anstieg der extremen Altersgruppen und einer Zunahme invasiver oder immunsuppressiver Therapien insbesondere bei Frühgeborenen und im hohen Lebensalter einhergeht [23, 28] . Dies kann auch eine Erklärung dafür sein, dass sich in der IHME-Studie zwar weltweit eine Abnahme der Sepsisinzidenz und der Zahl der sepsisbedingten Todesfälle zeigt, andererseits in Studien aus Ländern mit hohem Einkommen eine Zunahme von Infektionserkrankungen und steigende Sepsisfallzahlen zu verzeichnen sind. Sepsis tritt in Deutschland und weltweit mit einer hohen Inzidenz auf. Sie ist etwa mit jedem 5. Todesfall assoziiert. Abrechnungsdaten können als eine unselektierte und breit verfügbare Quelle zur Erfassung und Überwachung der Sepsisinzidenz dienen, sind aber anfällig für Verzerrungen durch Kodiereinflüsse und bilden nur einen Teil der Sepsiskrankheitslast ab. Um diese Defizite zu überwinden, müssen in Deutschland die Forderungen der WHO, die Dokumentation und die Abbildbarkeit der Sepsis im ICD-Kodiersystem zu verbessern und die Awareness für Sepsis zu steigern, dringend umgesetzt werden. Zur Surveillance der Sepsisinzidenz sollten neben Abrechnungsdaten auch elektronische Krankenakten oder prospektive Register genutzt werden, um Risikofaktoren, auslösenden Pathogene und Versorgungsdefizite zu erfassen. Auf dieser Basis können Interventionen zur Verbesserung der Prävention, Diagnostik und Therapie der Sepsis konzipiert und zielgerichtet implementiert werden. Eine neue Definition führt zu neuen Konzepten Clinical management of COVID-19 The third international consensus definitions for sepsis and septic shock (sepsis-3) Long-term cognitive impairment and functional disability among survivors of severe sepsis Sepsis among medicare beneficiaries: 3. The methods, models, and forecasts of sepsis Global, regional, and national sepsis incidence and mortality, 1990-2017: analysis for the Global Burden of Disease Study World Health Assembly 70, Resolution 70.7.: Improving the prevention, diagnosis and clinical management of sepsis Gemeinsamer Bundesausschuss. Beschluss: Beauftragung IQTIG: Entwicklung eines Qualitätssicherungsverfahrens Diagnostik Incidence and mortality of hospital-and ICUtreated sepsis: results from an updated and expanded systematic review and meta-analysis Regulatory mandates for sepsis care-reasons for caution Incidence and trends of sepsis in US hospitals using clinical vs claimsdata Sepsis hysteria: excess hype and unrealistic expectations S3-Leitlinie Sepsis -Prävention, Diagnose, Therapie und Nachsorge 2020 Incidence and mortality of hospital-and ICUtreated sepsis: results from an updated and expanded systematic review and meta-analysis Assessment of global incidence and mortality of hospitaltreated sepsis. Current estimates and limitations The global burden of sepsis: barriers and potential solutions Sepsis in intensive care unit patients: worldwide data from the intensive care over nations audit Epidemiology and burden of sepsis acquired in hospitals and intensivecareunits:asystematic review and metaanalysis Global incidence and mortality of neonatal sepsis: a systematic review and meta-analysis Epidemiology of sepsis in Germany: results from a national prospective multicenter study Incidence of severe sepsis and septic shock in German intensive care units: the prospective, multicentre INSEP study Challenges in assessing the burden of sepsis and understanding the inequalities of sepsis outcomes between national health systems-secular trends in sepsis and infection incidence and mortality in Germany Hospital incidence and mortality rates of sepsis Validation of ICD code abstraction strategies for sepsis in administrative data Estimating prevalence from the results of a screening test Sepsis incidence: a population-based study Epidemiology of severe sepsis