key: cord-0004731-b0t6bsya authors: Staub, Roger title: Haben HIV-Positive eine besondere Verantwortung?: Ein Diskussionsbeitrag date: 2007-03-27 journal: Bundesgesundheitsblatt Gesundheitsforschung Gesundheitsschutz DOI: 10.1007/s00103-007-0190-1 sha: 90917499bc52fa91e0b6de0cb7d34211ab9b91df doc_id: 4731 cord_uid: b0t6bsya In the 1980s, most Western countries decided to opt for a new public health approach based on learning strategies to fight HIV/AIDS. Within the new public health paradigm, every sexually active person protects him-/herself, whereas it is the infected people that bear the burden of prevention according to old public health. The paper begins with a clear statement for the new public health approach that includes self-protection and the protection of civil rights. It argues that this approach is still valid under the changing circumstances due to combination therapies and the developments related to them, such as the introduction of routine HIV screening in some countries. On this background, the paper examines from an ethical perspective to what extent people with HIV have a responsibility in HIV prevention. The paper argues that a person with HIV has a responsibility to protect his/her partner in the case of a relationship of love. On the other hand, in the case of "purely" sexual encounters, each person is responsible for his/her own security and should not rely on the other. This position also helps to clarify prevention messages. In conclusion, the paper shows how morality evolves into ethical positions and then translates into the law. It finally claims for stronger obligations for sex businesses to support HIV prevention. Mitte der 1980er-Jahre wurde in den meisten westlichen Industrieländern der gesundheitspolitische Streit zur medizinpolitisch wie bürgerrechtlich entscheidenden Frage nach der richtigen AIDS-Politik in Fachgremien und teilweise in der Öffentlichkeit ausgetragen. Dabei standen sich einander weitgehend ausschließende Optionen gegenüber: "Auf der einen Seite stand die klassische Seuchenstrategie nach dem ‚Old-public-health'-Paradigma, die individuelle Suchstrategie, im amerikanischen Sprachgebrauch ‚control and containment'". Sie steht unter der Leitfrage: Wie ermitteln wir möglichst schnell möglichst viele Infektionsquellen, und wie legen wir diese still? Ihr gegenüber stand die auf "new public health", also auf moderne gesundheitswissenschaftliche Konzepte gegründete gesellschaftliche Lernstrategie, im amerikanischen Sprachgebrauch "inclusion and cooperation". Sie sucht und realisiert Antworten auf die Frage: Wie organisieren wir möglichst schnell, möglichst zeitstabil gesellschaftliche Lernprozesse, mit denen sich Individuen, soziale Gruppen, Institutionen und die gesamte Gesellschaft maximal präventiv und ohne Diskriminierung der Betroffenen auf ein Leben mit dem bis auf weiteres unausrottbaren Virus einstellen können?" [1] . Wie die meisten westlichen Länder hat sich auch die Schweiz 1986 für die Lern-strategie und damit für Aufklärung der ganzen Bevölkerung entschieden und unter dem Logo "STOP AIDS" allen die Selbstschutzbotschaft "Vor AIDS schützen -Präservative benützen" massenmedial während nunmehr 20 Jahren vermittelt. Das von der Schweizer Regierung Ende November 2003 beschlossene Nationale HIV/AIDS-Programm 2004-2008 kommt zu dem Schluss: "Das Ergebnis kann im Rückblick als Sieg der gesundheitspolitischen Vernunft bezeichnet werden: Es hat sowohl bürgerrechtlich als auch epidemiologisch zu guten Resultaten geführt. So sind z. B. die Zahlen der neu gemeldeten positiven HIV-Antikörpertests seit 1990 bis zum Jahr 2000 kontinuierlich gesunken. In Bezug auf Diskriminierung von betroffenen Gruppen und HIV-infizierten Menschen stellen verschiedene Studien fest [2, 3] , dass in der Schweiz auf der Ebene des Rechts keine systematische oder regelmäßige Diskriminierung stattfindet" [4] . Verantwortung ist eine gesellschaftliche Zuschreibung: Man ist gegenüber jemandem, für etwas, vor einer Instanz, in Bezug auf Standards und ein Normensystem verantwortlich. Der moderne Verantwortungsbegriff bezieht sich heute auch auf gesellschaftliche Probleme, gilt auch prospektiv und für positiv bewertete Zustände. Er bezieht auch die (absichtliche) Unterlassung einer Handlung ein und bewertet die Folgen. Heute ist in der Ethik die Frage, wer ein guter Mensch ist, gegenüber der Frage, welches Handeln richtig ist, in den Hintergrund getreten [6] . In einer binären Welt des Ja/Nein und des Entweder/Oder ist es schwierig, Konzepte des Sowohl/Als auch zu vertreten. Angesichts der aktuellen Schwierigkeiten der HIV-Prävention behaupten wir nicht einfach, die bisherige Strategie sei unverändert weiterzuführen. Auf der Grundlage der Forderung, die Prävention weiterhin auf 100 %igem Selbstschutz zu begründen, folgt hier ein Vorschlag zur Frage, welche Verantwortung HIV-infizierten Menschen zugeschrieben werden soll. Dies nicht zuletzt, um das Outcome der Prävention zu verbessern. Von HIV-infizierten Menschen sollten wir erwarten, dass sie den geliebten Partner, die geliebte Partnerin nicht gefährden bei sexuellen Begegnungen, die im Rahmen einer aktuellen oder erhofften zukünftigen Beziehung stattfinden. Aber dort, wo es "nur" um Sex geht, sollten wir auf Selbstschutz setzen. Auch von einer HIV-positiven Prostituierten oder von einem HIV-positiven Homosexuellen bei einem One-Night-Stand ist nicht zu erwarten, dass sie Verantwortung für den Schutz des anderen übernehmen. Es ist offensichtlich, dass es sich bei diesen beiden Positionen um Extrempunkte eines Kontinuums handelt und dass sich sexuelle Begegnungen in der Regel dazwischen abspielen. Gleichwohl lässt sich mit dieser Position effizientere und effektivere Prävention organisieren, und zwar unter Einbezug des HIV-Antikörpertests gemäß den Regeln Freiwilligkeit, Vertraulichkeit und informierte Zustimmung. Voraussetzung ist, dass der Rhythmus von neuen PartnerInnen es theoretisch zulässt, mittels Test nach geschützten und treuen 3 Monaten ("Verlobungstest") bei beiden Beteiligten zweifelsfrei festzustellen, ob sie HIV-negativ sind. Lässt sich eine HIV-positive Person auf eine so geartete Beziehung ein, kann die Liebe nach dem Verlobungstest nur weiter gedeihen, wenn der HIV-positive oder ungetestete Partner von Anfang an seine Verantwortung wahrgenommen und für konsequenten Schutz gesorgt hat. Menschen mit häufigem Partnerwechsel, bei denen ein Testresultat "HIVnegativ" durch in den letzten 3 Monaten eingegangene ungeschützte sexuelle Begegnungen andauernd und wiederholt veraltet, müssen mitgeteilt erhalten, dass sie sich selbst zu schützen haben. Ihnen muss klargemacht werden, dass sie nicht erwarten können, dass allfällig HIV-infizierte Partner sie schützen werden. Der Entscheid, im "Nur-Sex-Fall" keine Verantwortung des HIV-infizierten Menschen zu erwarten, erlaubt klarere Präventionsbotschaften. Missverständnisse wie "wenn er positiv ist, wird er mich schon schützen" können korrigiert werden, z. B. durch deutliche Botschaften am Eingang zu Darkroom oder Sauna ("Hier ficken nur Positive ohne Gummi"). Wenn wir es schaffen, auch von einer HIV-positiven Prostituierten nicht zu erwarten, dass sie auf das Angebot eines Freiers verzichten muss, der für "ohne" gar mehr bezahlen will, dann können wir auch mit Freiern deutlich kommunizieren und sie zum "immer mit" motivieren. Zusammenfassung · Abstract sibility in HIV prevention. The paper argues that a person with HIV has a responsibility to protect his/her partner in the case of a relationship of love. On the other hand, in the case of "purely" sexual encounters, each person is responsible for his/her own security and should not rely on the other. This position also helps to clarify prevention messages. In conclusion, the paper shows how morality evolves into ethical positions and then translates into the law. It finally claims for stronger obligations for sex businesses to support HIV prevention. Is there a special responsibility of HIV-positive people? A discussion paper Abstract In the 1980s, most Western countries decided to opt for a new public health approach based on learning strategies to fight HIV/AIDS. Within the new public health paradigm, every sexually active person protects him-/herself, whereas it is the infected people that bear the burden of prevention according to old public health. The paper begins with a clear statement for the new public health approach that includes self-protection and the protection of civil rights. It argues that this approach is still valid under the changing circumstances due to combination therapies and the developments related to them, such as the introduction of routine HIV screening in some countries. On this background, the paper examines from an ethical perspective to what extent people with HIV have a respon-bzw. bei Außenkontakten die Safer-Sex-Regeln anzuwenden. In der Konsequenz bedeutet die Entscheidung für die New-Public-Health-Strategie (also für die Selbstschutzbotschaft) auch, dass man HIV-infizierten Menschen unter ART mit einer Viruslast unter der Nachweisgrenze mitteilen könnte, dass sie sich über ein möglicherweise verbleibendes Infektionsrisiko bei anonymem Sex keine Gedanken machen müssten, sie ungeschützten Sex haben könnten, sofern ihnen das Risiko, sich mit anderen sexuell übertragbaren Infektionen (STIs) zu infizieren, egal ist. Konsequenterweise könnte man HIV-positiven Männern ohne Therapie für den Darkroom dasselbe sagen. Von vielen Beratenden und auch von Betroffenen kommt an dieser Stelle aber Widerspruch. Ein eleganter Ausweg bietet sich an im moralischen Prinzip "du sollst nicht (absichtlich) Schaden zufügen". Dagegen ist die Frage, ob Betroffene unter ART ihren (ständigen) Partner infizieren können, im Gespräch zwischen Arzt und beiden Partnern zu klären. Der HIV-negative ständige Partner kann nur für sich entscheiden, ob er das Restrisiko auf sich nehmen will oder nicht. Und allen Beteiligten muss durch eingängige Beratung durch den behandelnden Arzt klar sein, dass unter dem Einfluss banaler Infekte oder STIs die HIV-Replikation auch unter Therapie wieder steil ansteigen kann. Die ganze Verantwortungsdiskussion greift aber zu kurz, wenn wir sie auf HIV-Positive und HIV-Negative beschränken. Es muss selbstverständlich sein, dass für Ungetestete gilt, dass es zwar ein Recht auf Nicht-Wissen gibt. Damit geht aber die Verpflichtung einher, sich so zu verhalten, als ob man HIV-positiv wäre, und damit entsprechende Anforderungen an die Verantwortlichkeit zu erfüllen. Neben individueller Verantwortung gibt es auch Verantwortung von Institutionen: Niemand wird bestreiten, dass sich die für die HIV-Präventionsstrategie zuständigen Institutionen und Organisationen (staatliche und private) dafür verantworten müssen, ob die Prävention erfolgreich war. Sie müssen sich fragen lassen, ob sie es geschafft haben, dafür zu sorgen, dass niemand sagen kann, er/sie habe nicht gewusst, dass Selbstschutz erwartet wird. Aber neben den für die Präventionsstrategie zuständigen Institutionen und Organisationen bzw. den Individuen gibt es eine Ebene, die bislang sträflich vernachlässigt wurde: die Orte, an denen sexuelle Begegnungen angebahnt werden und an denen sie stattfinden. So selbstverständlich, wie wir erwarten, dass eine private oder öffentliche Toilette mit Papier ausgestattet ist (auch dies eine kulturelle Errungenschaft), so selbstverständlich müsste es sein, dass an diesen Orten (z. B. Lokale mit Darkrooms, Saunen, Swingerclubs oder Bordelle) auch jederzeit und in genügender Menge Präservative etc. gratis angeboten werden bzw. im Preis inbegriffen sind, falls für den Zugang Eintritt verlangt wird. Präventionsfachleute haben jahrelang mit viel Aufwand und nicht im-mer erfolgreich die hier Verantwortlichen zu motivieren versucht, für diese Selbstverständlichkeit freiwillig zu sorgen. Eigentlich sollten die Betreibenden solcher Orte heute generell und obligatorisch dafür Sorge tragen. Wir überlassen den Einbau von Sicherheitsgurten schließlich auch nicht den motivierten Autoherstellern. Für die Überwachung dieser Anordnung wird die Konkurrenz unter solchen Betrieben schon sorgen. Dieser Diskussionsbeitrag basiert auf der Arbeit des Autors zur Erlangung des Masters in Angewandter Ethik der Universität Zürich [6] . Der Beitrag gibt die persönliche Meinung des Autors wieder. Er dankt dem Team der Sektion Aids des Bundesamtes für Gesundheit und seinem Vorgesetzten für die Korrekturen und Anregungen. Bundesamt für Gesundheit, Sektion Aids Postfach 3003 Bern, Schweiz E-Mail: roger.staub@bag.admin.ch Rosenbrock R, Schaeffer D (Hrsg) Die Normalisierung von Aids. Politik -Prävention -Krankenversorgung. edition sigma Identification des discriminations institutionnelles à l'encontre des personnes vivant avec le VIH en Suisse. Raisons de santé 18 Aids, Recht und Geld. Eine Untersuchung der rechtlichen und wirtschaftlichen Probleme von Menschen mit HIV/Aids Nationales HIV/ Aids-Programm Erneute Ausbreitung der HIV-Epidemie in der Schweiz unter Homosexuellen und anderen Männern, die Sex mit Männern haben (MSM) Strafgesetzbuch Art. 231 Verbreiten menschlicher Krankheiten Wer vorsätzlich eine gefährliche übertragbare menschliche Krankheit verbreitet, wird mit Gefängnis von einem Monat bis zu 5 Jahren bestraft. Hat der Täter aus gemeiner Gesinnung gehandelt Handelt der Täter fahrlässig, so ist die Strafe Gefängnis oder Buße HIV-positiv: Fertig mit Sex? Oder: Erwächst HIV-positiven Menschen eine andere oder besondere moralische Verantwortung? Diplomarbeit im Rahmen des Master-Studienganges 2001-2003 Master of Advanced Studies in Applied Ethics (MAE). download Schweizerisches Strafgesetzbuch vom 21. Dezember 1937. (Kurzkommentar). (2. Auflage)