key: cord-0004697-tvcundwj authors: Wehkamp, Karl-Heinz title: Public-Health-Ethik: Bedarf und Diskurs in Deutschland date: 2008-01-31 journal: Bundesgesundheitsblatt Gesundheitsforschung Gesundheitsschutz DOI: 10.1007/s00103-008-0440-x sha: 974c7b1241c684536d9b1f2d746720f20bfae898 doc_id: 4697 cord_uid: tvcundwj The international discourse about public health ethics is becoming more intensive and complex. The starting point is bioethics. The debate about public health ethics is simultaneously a debate about an adequate identity of public health, its goals, tasks and standards. In Germany there is a tremendous need to take part in this discourse. German experiences within the traditions of social medicine, social hygiene and medical ethics could significantly contribute to the international discussion. Unfortunately the German speaking public health community has hardly acknowledged the topic of ethics. The reasons for this are not explicitly known. The Angloamerican discourse is much more developed, but the concepts, terms and paradigms should not simply be transferred. They should critically be proven. hen, Deutschland sei in Bezug auf Public Health ein Entwicklungsland. Wenn es an Public Health mangelt, so wird es freilich auch an Public-Health-Ethik mangeln. Geht man davon aus, dass die angloamerikanischen Entwicklungen und Diskurse zu Public Health und Public Health Ethics richtungsweisend sind oder gar einem universellen Anspruch genügen, so wäre klar, dass wir schnell folgen müssten. Dabei würde aber übersehen werden, dass es in Mitteleuropa vergleichbare Entwicklungen gab und gibt, die unter anderen Namen firmieren. In deutschsprachigen Ländern wurden grundlegende Beiträge zur Entwicklung kollektiver Gesundheitsdienste und zur Gesundheitsethik bzw. Medizinethik erarbeitet. Auch die schlechten Erfahrungen sind einer Aufarbeitung wert: Volksgesundheitspflege in autoritären und terroristischen Staatsordnungen haben Lehren erteilt, die nicht vergessen werden sollten. Zweite Hypothese. In Deutschland sollten Public Health und Public Health Ethics schon aus Gründen einer globalen Perspektive aufgenommen, aber nicht einfach übernommen werden. Stattdessen sollten die reichhaltig im deutschsprachigen Raum entwickelten Konzepte, Diskurse und Erfahrungen unter den Stichwörtern Sozialmedizin, Sozialhygiene und Ethik aufgegriffen, weiterentwickelt und in internationale Diskurse eingebracht werden. Die Frage nach Public Health und Ethik ist aus einem anderen Grund schwieriger, als sie erscheint: Alle 3 Begriffe sind un-klar. Dies wird noch verstärkt durch das Übersetzungsproblem vom Englischen ins Deutsche. "Public" ist nicht einfach "öffentlich". "Öffentlichkeit" unterliegt -wie Habermas es ausgeführt hat [1] -einem Strukturwandel. Der Ausdruck kann im Sinne von "in staatlicher Verantwortung" oder im Sinne einer dem Staat gegenüber kritischen oder zumindest distanzierten Öffentlichkeit verstanden werden. Der Begriff kann zudem schlicht eine Orientierung auf Kollektive im Gegensatz zu Individuen bedeuten. Hinzu kommt als noch unberücksichtigtes Phänomen die sich immer stärker entwickelnde und konturierende Gesundheitswirtschaft (Health Economy), die eine zusätzliche Perspektive auf die Gesundheit wirft, jenseits von Staat, Medizin und Öffentlichkeit. Diese Perspektive fordert Beachtung, zumal sie das Gesamtbild und die zu seiner Beschreibung erforderliche Theorie verändert. Public Health könnte im Rahmen dieser Entwicklung durchaus auch als Private Health imponieren. Auch der Begriff "Health" ist ungeklärt, ebenso wie der deutsche Gesundheitsbegriff. L. Nordenfeldts [2, 3] Arbeiten zum Gesundheitsbegriff zeigen die unterschiedlichen moralischen Implikationen. J. Bircher und ich haben zu zeigen versucht, dass ohne eine über den WHO-Gesundheitsbegriff hinausgehende präzisere Bestimmung der Gesundheit weder die Medizin noch das Projekt Public Health/Sozialmedizin zu einer Identität finden können [4] . Es ist hier nicht der Ort, diese Debatten ausführlich vorzustel-len, wohl aber soll vor einer unkritischen Übernahme von Grundbegriffen gewarnt werden. Ethiker könnten so in von anderen Fachgebieten noch ungeklärten Fragen ungewollt Partei ergreifen und so zur Stärkung von Begriffen, Theorien und Paradigmen beitragen, die z. B. in der Medizin noch hoch umstritten sind. Dritte Hypothese. Ethiker sollten beachten, dass der Public-Health-Begriff eine Vielzahl von ungelösten Problemen beinhaltet und zudem nicht gut ins Deutsche zu übersetzen ist. Seine Eignung für den deutschen Diskurs stelle ich bis zum Nachweis des Gegenteils an dieser Stelle infrage. Die letzte hier einzubringende kritische Überlegung betrifft die Ethik selbst. Die Forderung nach einer Public-Health-Ethik ist so lange unpräzise, wie nicht gesagt wird, was man unter "Ethik" versteht und wie diese aussehen sollte. Diese Fragen sind aber schon Bestandteil des ausstehenden Diskurses. Geht es um eine Reihe von Prinzipien analog der "Princi ples of Biomedical Ethics" von Beauchamp und Childress [5] Wer in Deutschland, Österreich oder der Schweiz lehrend oder studierend mit den Fachgebieten Sozialmedizin, Sozialhygiene, Public Health oder Gesundheitswissenschaften zu tun hat, wird in der Regel nicht mit Ethik konfrontiert. Auf die we-nigen Veröffentlichungen zu dem Thema hat P. Schröder [6, 7] Die Lehrbücher zur Sozialmedizin [12] , H. Waller [13] , Medizinsoziologie [14] , Gesundheitssoziologie [15] kennen ebenfalls keine Ethik. Ein älterer, aber hoch informativer Sammelband zur Sozialmedizin [16] hat eine sozialmedizinische Ethik ebenfalls nicht im Blick. Interessant aber die zu findende Bemerkung von B. Gebhardt, dass Alfred Grotjahn, der große Entwickler der "Sozialen Pathologie" und der Sozialmedizin des frühen 20. Jahrhunderts vor dem 1. Weltkrieg einer Ge-sellschaft für ethische Kultur beigetreten war [17] . In Hannover wurde 1995 von Mitgliedern der Akademie für Ethik in der Medizin (AEM) und der Evangelischen Akademie Loccum das Zentrum für Gesundheitsethik gegründet. Hier wurde der Anspruch formuliert, das gesamte Spektrum der "Entwicklungen in Medizin, Pflege, Biowissenschaften und Gesundheitswesen" und letztlich das gesamte Themenfeld Gesundheit und Krankheit durch einen fortlaufenden ethischen Diskurs zu begleiten [18] . Die Gründergeneration war in den von H.-M. Sass organisierten Bioethikseminaren des Kennedy Institute for Ethics geschult worden und brachte von dort viele wertvolle Impulse ein. Dennoch entschlossen wir uns bewusst für den Titel "Gesundheitsethik", weil er als umfassender erschien und bei Problemen von Menschen und nicht an Professionen oder wissenschaftlichen Disziplinen ansetzt. 2001 fand die Jahrestagung der Akademie für Ethik in der Medizin (AEM) unter dem Leitthema "Individuelle Gesundheit versus Public Health" in Hamburg statt [19] . Damit wurde erstmals in Deutschland diese Thematik im akademischen Raum aufgegriffen. Unter den Referenten und Teilnehmern bildeten Public-Health-Experten aber die krasse Minderheit. Überwiegend waren hier Medizin-und Bioethiker, Philosophen und Theologen vertreten. Im Sommer 2007 hat die European Society for Philosophy of Medicine and Health Care (ESPMH) ihre Jahrestagung dem Thema Ethik und Public Health gewidmet. Auch hier war die Public-Health-Szene kaum beteiligt. Ähnlich wie in den USA und anderen Ländern werden in Deutschland, Österreich und der Schweiz zu ethischen Themen der Gesundheitssystementwicklung, der Finanzierung von Gesundheit, der gesundheitlichen Ungleichheit von Arm und Reich usw. viele Artikel veröffentlicht und Fachtagungen abgehalten. Hier sind Wissenschaftler bzw. Autoren tätig, die sich auch als Medizin-oder Bioethiker verstehen. Es mangelt also nicht unbedingt an ethischer Reflexion gesellschaftlicher Gesundheitsfragen, wohl aber an einer systematischen, inhaltlichen und institutio- speaking public health community has hardly acknowledged the topic of ethics. The reasons for this are not explicitly known. The Angloamerican discourse is much more developed, but the concepts, terms and paradigms should not simply be transferred. They should critically be proven. Keywords public health ethics · social medicine · social hygiene · medical ethics · bioethics · health ethics Public-Health-Ethik · Sozialmedizin · Sozialhygiene · Medizinethik · Bioethik · Gesundheitsethik The international discourse about public health ethics is becoming more intensive and complex. The starting point is bioethics. The debate about public health ethics is simultaneously a debate about an adequate identity of public health, its goals, tasks and standards. In Germany there is a tremendous need to take part in this discourse. German experiences within the traditions of social medicine, social hygiene and medical ethics could significantly contribute to the international discussion. Unfortunately the German-nellen Stärkung einer umfassenden Gesundheitsethik. Die deutsche Public-Health-Szene steht der angloamerikanischen hinsichtlich pragmatischer Klarheit nach. Deskriptives und analytisches Denken dominieren, die Wendung zur Praxis und damit zur Findung und Begründung von Entscheidungen ist schwächer ausgebildet. Wo man weniger Stellung nehmen will im Sinne klarer Empfehlungen und deren Begründung, wo also Sollensfragen weniger gestellt werden, ist die ethische Herausforderung weniger stark. Wo die ethische Dimension in der Praxis der Sozialmedizin und der Public-Health-Praxis aber nicht wahrgenommen und diskursiv bearbeitet wird, läuft diese Gefahr, zwischen Moralismus und Technizismus hin und her zu oszillieren. Die im Vergleich auch schwächere globale und politische Ausrichtung vernachlässigt zudem die Verbindung zwischen Public Health und Menschenrechten, wie sie insbesondere von der WHO und anderen Einrichtungen der UNO hergestellt wird. Zusammenfassend bleibt festzustellen: Im deutschsprachigen Raum ist das Thema Public-Health-Ethik von Ethikern in den vergangenen Jahren stärker aufgegriffen worden, bleibt aber weitgehend auf einen kleinen Kreis beschränkt. Die Vertreter von Sozialmedizin, Public Health, Gesundheitswissenschaften und Medizinsoziologie nehmen Ethik kaum wahr. Sie scheinen von ihr auch nichts zu erwarten. Ein Grund für diese Abstinenz (oder Ignoranz) könnte in dem geringeren Pragmatismus bzw. in einer gewissen Praxisferne liegen, sodass die Problematik verantwortlicher Entscheidungen weniger im Blick ist. Denkbar ist auch, dass moralische Aspekte eher im Kontext soziologischer Diskurse geführt werden, ohne dass explizit ethische Hervorhebungen vorgenommen werden. Moralische Orientierungen in den auf Gesundheit bezogenen Fachgebieten sind offenbar gut versteckt und so selbstverständlich, dass sie scheinbar keiner besonderen Reflexion bedürfen. Sicherlich sind ethische Reflexionen der Public-Health-Geschichte und -Ziele auch schmerzhaft. Sie würde zeigen, dass Public Health und Sozialmedizin auch dunkle Seiten haben und positiver gesellschaftlicher Rahmen-bedingungen sowie ständiger interner Wachsamkeit bedürfen. In der angloamerikanischen Welt, die hinsichtlich ihrer Gesundheitssysteme und Werte teilweise große Unterschiede und viele Probleme aufweist, die in den wissenschaftlichen und intellektuellen Traditionen aber auch über große Gemeinsamkeiten verfügt, ist Ethik im Rahmen von Medizin, Pflege und angewandten Biowissenschaften deutlich fester verankert als in Deutschland. Es gibt hier große Ethikinstitute mit internationaler Ausstrahlung neben kleineren Einheiten, die zum normalen Forschungs-, Wissenschafts-und Ausbildungsbetrieb dortiger Hochschulen gehören. Ethik ist zudem stärker als in Europa und in Deutschland institutionalisiert und Teil vieler Zertifizierungs-und Akkreditierungsprogramme. Bedeutende Journale wie "Lancet" oder das "American Journal of Public Health" haben in den vergangenen Jahren vielfach und zunehmend Ethik-und Public-Health-Themen behandelt. Auch renommierte Lehrbücher behandeln Public Health Ethics in gebotener Ausführlichkeit und Qualität. Der Nutzen der Ethik für Public Health liegt in seinem Potenzial, Entscheidungsprozesse und policy making zu unterstützen. Im Standardwerk "Oxford Handbook of Public Health Practice" [20] wird diese Tatsache klar formuliert: "The ethics of public health cannot be anything but the ethics of political activity and decision mak ing." ( [20] [23] , das im selben Jahr von D. Callahan und B. Jennings verfasste Papier mit dem Titel "Ethics and Public Health-Forging a Strong Relationship" [24] sowie der Beitrag von R. Bayer und A.L. Fairchild "The Genesis of Public Health Ethics" [25] . Alle Autoren setzen bei der Bioethikbewegung der 1960er-Jahre an, deren Gemeinsamkeit in der Formulierung von Autonomieansprüchen von Menschen -Patienten sowie Bürgern -gegenüber der medizinischen Forschung und Versorgungspraxis gesehen wird. "In the beginning there was bioethics", schreiben R. Bayer und A.L. Fairchild [25] , um im Anschluss für einen Perspektivenwechsel zu argumentieren, der von einer Public-Health-Ethik notwendig eingenommen werden müsse. Für deren systematische Grundlegung sei die Bioethik ungeeignet, gelte es doch, hier Interessen der Gesellschaft auch gegen Interessen Einzelner durchzusetzen. Die Perspektive der Bioethik, so z. B. D. Callahan, hatte die traditionelle Medizinethik erweitert, die überwiegend auf Szenen im Rahmen der Arzt-Patient-Beziehungen begrenzt gewesen sei. Bio ethik habe eben ganze Forschungsrichtungen und Therapiekonzepte wie die Molekulargenetik, die Transplantationsmedizin oder die Intensivmedizin zum Gegenstand gemacht. Sie habe aber auch Grundlegungen der medizinischen und pharmakologischen Forschung formuliert. D. Callahan betont, dass das Wohl des Einzelnen, insbesondere seine Autonomie und Selbstbestimmung, im Mittelpunkt stand, während die Bevölkerungsgesundheit insgesamt eher im Hintergrund blieb. Zudem richtet sich eine sich so selbst verstehende Bioethik partiell gegen die herkömmliche, hippokratisch-paternalistische Medizinethik. P. Schröder, der die Feinheiten des angloamerikanischen Diskurses sehr genau beobachtet hat, spricht von unterschiedlichen Aufträgen der Bioethik und der Public-Health-Ethik. Auch er sieht Erstere eher autonomieorientiert, Letztere eher in einer kommunitaristischen Perspektive (obwohl er diesen Ausdruck nicht verwendet) [ Eine Intensivierung der Forschung und der Diskurse über die künftige Identität der auf Gesundheit bezogenen Wissenschaften und Professionen sowie über deren gesellschaftliche Platzierung hat auf globaler Ebene begonnen. Aktuell verschieben sich viele althergebrachte Konzepte in der Praxis wie in der Theorie. Der öffentlich getragenen Sorge um die Gesundheit tritt das Geschäft mit der Gesundheit zur Seite. Herkömmliche Vorstellungen von Gesundheitswesen und Gesundheitssystemen beginnen sich zu verändern. Gesellschaft, Staat, Wirtschaft und Öffentlichkeit verändern ihre Konfigurationen. In solchen tiefgehenden Veränderungsprozessen, die zudem mit wachsender Beschleunigung ablaufen, sind auch herkömmliche Begriffe und Paradigmen zu überprüfen. Auch hier liegt eine Dringlichkeit vor. Der deutschsprachige wissenschaftliche Diskurs um die Gesundheit braucht den Anschluss an die globale und internationale Szene. Wertvoll wird er dann für alle Beteiligten, wenn er dabei eigene Erfahrungen selbstbewusst aufarbeitet und einbringt und sich nicht scheut, einige gängige paradigmatische Vorgaben und Leitbegriffe kritisch zu hinterfragen. Sozialmedizin und Sozialhygiene sind traditionell Teil der wissenschaftlich fundierten Medizin. Sie sind nicht ihr Gegenüber. Folglich können eine Ethik der Medizin und eine Ethik einer Sorge um die Bevölkerungsgesundheit kein Gegensatz sein. Aus Sorge um die Gesundheit der Menschen (Bevölkerung) wird Medizin entwickelt, institutionalisiert, durch Gesundheitssysteme gestaltet und finanziert. Kollektive (gesellschaftliche) und individuelle Orientierungen bedingen und verschränken sich wechselseitig. Ohne einen Gegensatz konstruieren zu müssen, sind aus pragmatischer Sicht die unterschiedlichen Perspektiven auseinanderzuhalten: die Fokussierung der interindividuellen Beziehungen (Mikroebene) und der kollektiven Ziele (Meso-und Makroebene). Angesichts der Verschränkung beider Ebenen bzw. Perspektiven wäre aber ein beide umfassendes Ethikkonzept sinnvoll. Anbieten würde sich der Begriff "Gesundheitsethik", denn er umfasst alle Ebenen und Dimensionen eines von allen Völkern der Welt entwickelten Projekts: der individuellen und kollektiven Sorge um die Gesundheit, der Heilung Kranker und auch der Begleitung Sterbender. Auf den nur noch bedingt geeigneten Begriff "public" würde verzichtet werden. Wa rum nicht "Ethics of Health and Illness", wenn ein international anwendbarer Begriff gesucht wird? Bioethik ist eine Direktübersetzung des englischen Worts "Bioethics", häufig auch "Biomedical Ethics" genannt, und bezeichnet eine Ethik angewandter Biologie und Medizin. Im Deutschen ist daraus der Begriff "Biomedizin" geworden. Dieser Begriff erscheint mir angesichts der vorherrschenden Paradigmen der Biowissenschaften als ebenso problematisch wie seine Verwendung. Die zeitgenössischen Lebenswissenschaften setzen den "Biobegriff " von psychosozialen und spezifisch humanen Dimensionen ab. Bestenfalls wird von einer "biopsychosozialen Einheit" gesprochen. Bezogen auf die Medizin, bezeichnet "Bio" nur einen Teilaspekt, niemals das Ganze, auch dann nicht, wenn es um die körperliche Behandlung eines Patienten geht. Wem auch immer an einer Humanmedizin gelegen ist, in der die Begegnung zwischen Menschen eine wesentliche Rolle spielt, wird "Biomedizin" für sich ablehnen. Die Verwendung dieses Begriffs konterkariert alle in der deutschen Medizingeschichte entworfenen Konzepte einer "anthropologischen Medizin" (V. von Weizsäcker u. a.) und einer psychosomatisch-ganzheitlich konzipierten Heilkunde. In gewisser Weise reflektiert der Begriff einen eher kritisch zu bewertenden Zustand der heutigen Medizin, nämlich ihren Hang zur Objektivierung von Menschen und zur Reduktion einer interpersonellen Heilpraxis auf Technik. Biomedical Ethics ist dem eigenen Anspruch nach umfassender als Medical Ethics und bezieht auch ganze Therapieverfahren, Forschungskomplexe und Forschungsmethoden im Sinne einer moralischen Begutachtung kritisch mit ein. Dieser weitere Anspruch ist für mich nicht nachvollziehbar, da das Kürzel "Bio" eben nur einen Teilaspekt der Medizin herausgreift und die Aspekte "Sozio" und "Psycho" ebenso ausschließt wie die subjektive Seite der Gesundheit, die Menschen selbst gestalten und verantworten. Gerade dann, wenn es dem Biomedical-Ethics-Ansatz um die Stärkung des Autonomieprinzips geht, müsste er auf sein reduktionistisch zu verstehendes "Bio" verzichten. Tatsächlich haben viele Bioethiker Themen behandelt, die eher den Namen "Social Medicine Ethics" verdient hätten. Ich denke an N. Daniels Klassiker "Just Health Care" [26, 27] , an die verschiedensten Arbeiten zum Thema "Rationing" und "Priority Setting" [28] , "Ökonomisierung der Gesundheit", "Quality Adjusted Lifeyears" und an die "Organisational Ethics" beispielsweise von G. Khushf [29] . Aber selbst wenn es um die typischen Themen von Biomedical Ethics geht, beispielsweise um genetische Testverfahren und prädiktive Medizin, so steht doch letztendlich die Frage im Hintergrund, ob eine Gesellschaft diese Verfahren entwickeln und anwenden soll oder nicht und unter welchen Bedingungen dies geschehen soll. Dabei wird auch mit der Bevölkerungsgesundheit argumentiert, sei es körperlich oder mental, und zwar in kollektivem Sinn. So gesehen wären die Biomedical Ethics aus systematischer Sicht Public Health Ethics. Wenn dem aber so ist, wie sollen sich dann beide Ethiken gegenüberstehen? Die Ursprünge der deutschsprachigen Sozialmedizin und Sozialhygiene enthalten einen ethischen Kern im Sinne reflektierter Moralposition als Anspruch an Fachgebiet, Kollegen und Politik. In deutscher Sprache erschien bereits im 18. Jahrhunderts das mehrbändige Werk "System einer vollständigen Medicinischen Policey" von J.P. Franck [30] [32] . Hier wird das Konzept einer "öffentlichen Gesundheitspflege" entworfen, die zuerst "für die Gesellschaft im Ganzen" und sodann "für das einzelne Individuum" zu sorgen habe. Gesundheitsförderung und Krankheitsbekämpfung werden verknüpft. Soziale Maßnahmen müssen im Namen der Gesundheit durchgeführt werden. Der amerikanische Medizinhistoriker G. Rosen entdeckt im Programm der radikaldemokratischen Ärzte eine Freiheits-charta‚ "in der sie den Vorrang der Menschenrechte und Menschenwürde proklamierten" und deren Konsequenzen für Gesundheit und Krankheit ableite ten ( [33] Public Health als Ziel von Politik unterscheidet sich von einer Sozialmedizin noch in einem weiteren, entscheidenden Punkt. Während Letztere ein ärztliches Mandat beansprucht, ist das Ziel "gesun-de Bevölkerung" nur durch das Zusammenspiel vieler Berufe und Disziplinen einschließlich der Bevölkerung selbst zu erreichen. Public-Health-Studiengänge gibt es heute auch außerhalb der medizinischen Fakultäten, ja vielfach wird sogar die heute übliche ärztliche Denkweise als kontraproduktiv angesehen. Alle diese Gründe sprechen -sollten sie stichhaltig sein -gegen eine schlichte Gleichsetzung der Begriffe "Sozialmedizin" und "Sozialhygiene" mit dem heute international bevorzugten Terminus "Public Health". Diesem haften eben auch wesentliche Elemente traditionell englischer Diskurse an, während viele Besonderheiten mitteleuropäischer Entwicklungen darin nicht enthalten sind. Dies sollte berücksichtigt werden, wenn heute entschieden werden müsste, ob eine Public-Health-Ethik in einer globalisierten Welt tatsächlich universal ist und -wenn ja -wie dann mit den diskreten nationalen Wissenschaftstraditionen und Sprachen umzugehen ist. Abschließend wird für einen eigenständigen deutschsprachigen Beitrag zu einer international zu entwickelnden Ethik der Sorge um die Gesundheit der Bevölkerung(en) plädiert, der mit dem angloamerikanischen und anderen Diskursen intensiv kommuniziert, ihn aber nicht kritiklos übernimmt. Die zweifellos vorhandenen starken moralischen Impulse und die Irrwege in der europäischen Sozialmedizin und Sozialhygiene sollten aufgenommen und kritisch geprüft werden. Unsere hoch ambivalenten Erfahrungen mit "Utopien der Medizin" in europäischen Terrorsystemen sind ebenso notwendig aufzuarbeiten. Ethik braucht dabei die enge Verbindung zur Gesellschaftstheorie und zur Empirie und selbstverständlich den Bezug zur Geschichte. rer. pol. Dr. med. Karl-Heinz Wehkamp Hochschule für Angewandte Wissenschaften Hamburg Fakultät Life-Sciences -Studiengänge Health Sciences/Public Health Lohbrügger Kirchstraße Strukturwandel der Öffentlichkeit Dimensions of health and health promotion The concept of health and illness revisted Principles of biomedical ethics Ein 4-Prinzipien-Ansatz für die Bioethik. Zeitschrift für Evangelische Ethik 51 Public-Health-Ethik in Abgrenzung zur Medizinethik Sozial-und Präventivmedizin Public Health Handbuch Gesundheitswissenschaften Public-Health-Gesundheit im Mittelpunkt Medizinische Soziologie, 5.Aufl Gesundheitssoziologie, 5. Aufl. Juventa Alfred Grotjahns Soziale Pathologie und sein Einfluss auf die englische und amerikanische Sozialmedizin Gesundheit und öffentliche Verantwortung Individuelle Gesundheit versus Public Health? Lit Oxford Handbook of Public Health Practice Oxford Textbook of Public Health, 4. Ausg New ethics for the Public's Health Ethics and Public Health: forging a strong relationship The genesis of Public Health Ethics Just health care Am I my parent's keeper? Setting limits. Medical goals in an aging society The scope of organizational ethics 1784) System einer vollständigen medicinischen Polizey, 2. Aufl. Schwan Die Not im Spessart -Mitteilungen über die in Oberschlesien herrschende Typhus-Epidemie (Faksimile Nachdruck) Die medicinische Reform (Faksimile Nachdruck der Ausgabe 1848/49) Erbgutvariante lässt früher zur Zigarette greifen Unter Rauchern wurde diese Erbgutänderung 10 Prozent häufiger festgestellt als unter Nichtrauchern. Die Betroffenen litten zudem an einer stärkeren Nikotinabhängigkeit. Der Austausch eines Bausteins in der TPH2-Erbanlage führt hingegen dazu, dass die Betroffenen deutlich früher mit dem Rauchen beginnen Träger eines veränderten TPH2-Gens sind im Schnitt ängstlicher als Vergleichspersonen. Da Angst und Unsicherheit als wichtige Auslöser für Drogenmissbrauch gelten, ist dies ein Grund warum die Betroffenen eher zur Zigarette greifen The Role of the TPH1 and TPH2 Genes for Nicotine Dependence: A Genetic Association Study in Two Different