Willy Hartner (1905–1981) o k, n 4 t. o ¢ I WILLY H A R T N E R (1905-1981) M A T T H I A S S C H R A M M Niemand kann sich mehr der Einsicht verschlieflen, daft die Naturwissen- schaft begonnen hat, unser aller Leben zu beherrschen. Die Frage driingt sich auf: Was ist diese Naturwissenschaft, die zu unserem Schicksal geworden ist ? Die Frage ist nicht neu; sie ist gestellt worden, l~ingst ehe sie begann, als Schicksalsfrage die Allgemeinheit zu beunruhigen. Es gibt zwei Versuche, diese Frage zu 16sen. Auch sie reichen weit zurfick und sind eng mit dem Gang der Naturwissenschaft verkniipft. Es bleibe dahingestellt ob sie nicht im Grunde miteinander und mit der Naturwissen- schaft selbst zusammenfallen. Beiden Versuchen gemeinsam ist, daft sie zur L6sung der Frage auf den Weg sehen, den die Naturwissenschaft nimmt und genommen hat. Zum einen hat man, was Naturwissenschaft ist, aus ihrer Methode ermitteln wollen. M~0o6og ist der Weg. Seit Aristoteles versucht hat, aus seiner Logik eine Lehre vonder Methode zu gewinnen, hat es nicht an Bemiihungen gefehlt, Wissenschaft und insbesondere Naturwissenschaft aus ihrer Methode zu bestimmen. Descartes hat die Besinnung auf die Methode zum Angelpunkt der Wissenschaft erhoben, und die Neuzeit ist ihm darin weithin gefolgt. Von wesentlich anderer Art scheint der Versuch zu sein, die Naturwissen- schaft aus ihrem Ursprung zu begreifen, durch Riickblick auf den Weg, den sie genommen hat. Woher ist unsere Naturwissenschaft gekommen, wovon ist sie ausgegangen und wie ist dies vom Menschengeist hervorgebrachte Wunder- werk entstanden ? Im Grunde geh6rt beides zur Naturwissenschaft selbst. Sie kann ohne Riickbesinnung auf ihr eigenes Tun nicht lebendig bleiben. Letztlich geh6rt das Nachdenken fiber das eigene Begreifen und Handeln schon immer zur Naturwissenschaft, nur ist die Bedeutung der methodischen und operationel- len Analyse im Laufe der Entwicklung in immer h6herem Mafle sichtbar geworden. Auch hat sich naturwissenschaftliche Forschung stets des bereits zuriickgelegten Weges versichern miissen, um welter voranschreiten zu k6nnen. Ptolemaeus hat die Ergebnisse seiner Vorg~inger sorgf~iltig verzeich- net, weil er sie fiir seine eigene Arbeit brauchte. Ohne Riickblick auf das Erreichte, auf den Stand der Forschung, ist weiterffihrende Arbeit nicht m6glich. Neu ist, daft die Entwicklung der Naturwissenschaft sich auf vielen Gebieten heute so beschleunigt hat, daig im Rahmen des immer kurzatmiger werdenden Forschungsprozesses fiir grunds~itzliche Rfickbesinnung auf seinen Sinn und seine Geschichte einfach keine Zeit mehr bleibt. Man hat diese Aufgabe an Wissenschaftstheorie und Wissenschaftsgeschichte delegiert. Sie 1 Zeicsehrift f/Jr allgemeine Wissenschaftstheorie XIII/I (t982) @ Franz Steiner Verlag GmbH, D-6200 Wiesbaden 2 Matthias Schramm sollen dafiir sorgen, dag die Wissenschaft nicht einen Eindruck des Grauens vermittelt, vergleichbar dem, den uns ein Mensch bietet, der blind und ohne Ged~ichtnis seinen Weg geht. Eine solche Ubertragung und Arbeitsteilung bringt ihre Gefahren mit sich. Es kommt, gerade am Anfang einer solchen Entwicklung, alles darauf an, daft die lebendige Verbindung zur naturwissenschaftlichen Forschung setbst nicht abreif~t und daft in einer Zeit, in der diese Forschung sich immer weiter in Sonderdisziplinen aufspaltet, die Riickbesinnung auf den gemeinsamen Ursprung als zusammenschliegende und neue Einheit stiftende Kraft erkannt wird. Nur die andere Seite dieser Gefahr ist das Bestreben, das Forschungsfeld der Geschichte der Wissenschaften zu einer Art yon eng umgrenzter geistiger Schrebergartenkolonie zu machen, die von einem Verein verwaltet wird, der niemanden hineinl~ifgt, der nicht dazu geh6rt, und der insbesondere ~ingstlich die Vertreter der systematischen naturwissenschaftlichen Forschung als Laien aus ihm verbannen m6chte. Diese Gefahr wird vor allem dann gegeben sein, wenn man die Geschichte der Naturwissenschaft denen iiberl~iflt, bei denen es zu systematischer Forschung nicht reicht. Diesen Gefahren ist dadurch in weitem Umfang entgegengewirkt worden, dag die Geschichte der Naturwissenschaften in Willy Hartner einen Vertreter gefunden hat, der dank seiner einzigartigen Gaben und seiner/.iberragenden Leistungen der sich verselbst~indigenden Disziplin Maflst~ibe gesetzt hat, an denen die weitere Forschung auf diesem Gebiet sich wird messen miissen. Sein Lebenswerk zeigt, wie der Forderung nach einer Besinnung der naturwissen- schaftlichen Disziplinen auf den von ihnen zuriickgelegten Weg Geniige getan werden kann und mug. Auch die systematische Frage nach dem, was das Wesen der Naturwissenschaft ausmacht, wird ohne Riickgriff auf das yon ihm Erarbeitete nicht zureichend beantwortet werden k6nnen. Er hat das neue Fach in der Weise vertreten, deren es bedurfte'. Willy Hartner wurde am 22. Januar des Jahres 1905 in Ennigerloh in Westfalen geboren. Seine Familie fiihlte sich naturwissenschaftlicher Tradition verbunden. Sein Vater wirkte als Chemieingenieur und war einer der ersten Fachleute fiir die Zementherstellung. Das Elternhaus bot dem Hochbegabten die vielf~iltigste Anregung. Seine musikalischen Neigungen erfuhren fri~hzeitig sorgf~tige Pflege. Die Musik hat ihn durch sein ganzes Leben hindurch als Quelle der Freude in frohen und Spenderin von Trost in schweren Tagen begleitet. Auch der einzigartigen Sprachbegabung Willy Hartners kam das Elternhaus entgegen. So wie anderw~irts Franz6sisch, so sprachen seine Eltern Spanisch, wenn das Besprochene nicht fiJr das Ohr der Kinder bestimmt war: Anreiz genug, iiber die Schulsprachen hinaus sich am Spanischen zu versu- chen. Willy Hartner hat mir einmal berichtet, wie sehr er das makellose Spanisch seiner Mutter bewundert und sich bemiiht hat, es ihr gleich zu tun. War schon die Sprachbegabung der Eltern nicht allt~glich, so waren die I Ein Vertreter der Gyn~ikologie bemerkte einmal taktvoll zu ihm, er wolle sich mit der Geschichte der Wissenschaften befassen, werm es zur T~itigkeit in seinem Fach nicht mehr reiche. Willy Hartner erwlderte prompt: ,,Sie werden lachen, ich werde, wenn ich zu anderem nicht mehr in der Lage sein sollte, Gyn~ikologie treiben." Willy Hartner (1905-1981) Fiihigkeiten des Sohnes iiberragend. Zusammen mit seinen naturwissenschaft- lichen Neigungen haben sie das Fundament gebildet, auf dem Willy Hartners einzigartiges Lebenswerk sich griindete. Die Schule hat Willy Hartner in Miinchen, dann in Bad Homburg vor der H6he besucht, stets Primus seines Jahrgangs. Dem Wunsch und Rat der Familie folgend hat er dann an der Universitiit Frankfurt Chemie studiert. Die Universit~it Frankfurt war, nach langwiihrenden Bemiihungen der Biirger der Stadt, im Jahre 1914 ins Leben gerufen worden und erlebte nun, allen Hindernissen der auf den ersten Weltkrieg folgenden Jahre zum Trotz, eine Zeit der Bliite, nicht zuletzt in ihren naturwissenschaftlichen Disziplinen. Es war aber nicht die Chemie, die Willy Harmer schlieglich in ihren Bann zog. Nach dem ebenso raschen wie erfolgreichen Abschlug seines Chemiestudiums war der Familienrat schon in Uberlegungen eingetreten, wie Willy Hartner die erworbenen Kenntnisse nutzbringend anwenden k6nnte, als der Betroffene die wohlmeinenden Ratgeber mit der entschiedenen Feststellung verbliiffte, er wolle nun, nachdem er dem Wunsch der Familie gen/igt, seinen eigenen Neigungen folgen und Astronomie studieren. In den Jahren 1898 bis 1911 hatte der Astronom Martin Brendel seine Theorie der kleinen Planeten herausgebracht 2. Er hatte dabei Ansiitze des schwedischen Himmelsmechanikers Hugo Gyld6n weitergefiihrt. Brendel, der nun in Frankfurt lehrte, fiihrte Willy Hartner in die Methoden der klassischen und neueren Himmelsmechanik ein und schon im Jahre 1928 konnte sein 23j~ihriger Schiller ihm eine Arbeit vorlegen, in der er zeigte, wie sich die St/Srungen der Planeten in den yon Gyld6n eingefiihrten Koordinaten berechnen lassen. Am 10. Dezember dessel- ben Jahres wurde Willy Hartner auf Grund dieser Arbeit (28.2) 3 von der naturwissenschaftlichen Fakult/it der Universit~/t Frankfurt zum Doctor philosophiae naturalis promoviert. Isaac Newton hat in seinen Philosophiae naturalis principia mathematica gezeigt, dag die Perihelbewegung der Planetenbahnen einen hochempfindli- chen Indikator fiir m6gliche Abweichungen yon seinem Gravitationsgesetz darstellen mug. Zur Uberpriifung der allgemeinen Relativit~itstheorie Einsteins hatte man auf diesen Gedanken zuriickgegriffen. Vor allem erhoffte man sich v o n d e r verh/iltnismiigig schnellen Perihelbewegung des Merkur einen Auf- schlug fiber Giiltig- oder Ungiiltigkeit der neuen Gravitationstheorie. Merkur hat durch seine Niihe zur Sonne und die vielfiiltigen und erheblichen St6rungen, denen sein Lauf unterworfen ist, Beobachter und Theoretiker immer wieder vor besondere Probleme gestellt. Willy Hartner sollte nun, im Auftrag der Notgemeinschaft Deutscher Wissenschaft, das verfiigbare Beob- achtungsmaterial einer neuen Analyse unterwerfen, um die Perihelbewegung und ihre Griinde zu ermitteln. Dazu waren zun~ichst einmal umfangreiche Rechnungen zur Reduktion der Beobachtungen erforderlich. Zu einem 2 Erschienen in vier Teilen in den Abhandlungen der k. Gesellschaft der Wissenschaften zu G6ttingen, math.-physik. Kl., N.F., Bde 1, Nr. 2; 6, Nrr. 4 und 5; 8, Nr. 1. 3 Die in runden Klammern beigegebenen Nummern beziehen sich auf die Bibliographie der Schrlften Willy Harmers, in diesem Heft pp. 174-179. 4 Matthias Schramm Abschlufl dieser Arbeiten ist es nicht gekommen. Der Plan muf~te nach der nationalsozialisfischen Machtergreifung aufgegeben werden. Vor dem Jahre 1933 hatte die Universit~it Frankfurt ihren Studenten Einzigartiges zu bieten. Bei Willy Hartner trugen die Anregungen, die er empfing, reiche Frucht. Die Mathematik wurde in Frankfurt yon fiinf Professoren vertreten, was damals ungew6hnlich war: es waren Max Dehn, Ernst Hellinger, Paul Epstein, Otto Sz~sz und Carl Ludwig Siegel. Zwischen den Lehrenden und Lernenden bestanden vielf~ikige und enge Verbindungen. Dazu beigetragen hat vor allem das historisch-mathematische Seminar, in dem sich alle an solchen Fragen Anteil nehmenden Professoren und Studenten zusammenfanden. Carl Ludwig Siegel, der in einem eindrucksvollen Vortrag 4 die Geschichte des Frankfurter Mathematischen Seminars geschildert hat, berichtet dariiber im einzelnen. Von 1922 bis 1935 wurde auf Antrag yon Dehn in jedem Semester ein Seminar fiber Geschichte der Mathematik abgehalten. ,,Daran haben aufler Dehn und Epstein", schreibt Siegel, ,,auch Hellinger und ich selber leitend teilgenommen, aber Dehn war dutch seine iiberragende und universelle Bildung gewissermaflen unser geistiges Oberhaupt, so daft wir in der Auswahl des Themas in den einzelnen Semestern seinen Ratschl~igen folgten. Im Riickblick gehSren jetzt diese gemeinsamen Seminarstunden im Freundeskreis zu den schSnsten Erinnerungen meines Lebens. Auch damals freute mich diese T~itigkeit, zu der wit uns jeden Donnerstagnachmittag yon vier bis sechs U h r zusammenfanden; aber erst sp~iter, nachdem wit in alle Welt zerstreut waren, wurde mir dutch Entt~iuschungen an anderen Often klar, welch ein seltenes Gliick .es ist, wenn die Fachkollegen sich uneigenniitzig zu einer Gemeinschaft vereinigen, anstatt nur von ihrem Lehrstuhl aus zu dirigieren. Bei diesen Seminarsitzungen war der Grundsatz, die wichtigsten mathematischen Entdeckungen aller Zeiten an den Quellen im Original zu studieren, wozu jeweils ein Teilnehmer sich schon vorher iiber den betreffen- den Text genau informiert hatte und dann nach der gemeinsamen LektLire die Diskussion leiten konnte. So haben wir yon den antiken Verfassern vor allem in mehreren Semestern eingehend Euklid und Archimedes gelesen, und ein anderes Mal besch~iftigte uns ebenfalls mehrere Semester lang die Entwicklung der Algebra und Geometrie seit dem Mittelalter bis zur Mitte des siebzehnten Jahrhunderts, wodurch wir insbesondere die Werke von Leonardo Pisano, Vieta, Cardano, Descartes und Desargues gr~indlich kennenlernten. Ergiebig war dann auch die gemeinschaftliche Untersuchung der Ideen, aus denen im 17. Jahrhundert die Infinitesimalrechnung entstanden ist. Hierfiir waren also unter anderem die Entdeckungen von Kepler, Huygens, Stevin, Fermat, Gregory und Barrow zu behandetn ''s. Willy Harmer hat mir oft von diesem historisch-mathematischen Seminar berichtet. Die Seminare, die er selber sp~iter an der Universit~it Frankfurt abgehalten hat, haben an diese in der Zeit der nationalsozialistischen Herr- 4 Zur Geschichte des Frankfurter Mathematischen Seminars, Frankfurt am Main 1965 (Frankfurter Universitiitsreden, Heft 36). s l.c., p. 10. Willy Harmer (1905-1981) 5 schaft abgerissene Tradition bewuist wieder angekn@ft. Vor allem mit Max Dehn, der fiir die Grundlagen der Geometrie, die Kl~irung der Grundbegriffe der Topologie und fiir die Gruppentheorie so Unvergleichliches geleistet hat, wurde er in jener schweren Zeit durch gemeinsames Erleben noch enger verbunden. Im Arbeitszimmer Willy Hartners in seinem Frankfurter Institut nahm sp~iter eine Aufnahme den Ehrenplatz ein, die den schrnen Kopf Max Dehns zeigte. Willy Hartners Besch~iftigung mit orientalischen Sprachen brachte ihn in immer engere Beriihrung mit dem Frankfurter China-Institut und seinem Leiter Richard Wilhelm. Der war ehemals als Missionar nach China gezogen und als Apostel chinesischer Kultur in die Heimat zuriickgekehrt und machte nun klassische chinesische Texte deutschen Lesern in Ubersetzungen zug~ing- lich, in denen sich umfassende Kennmis der chinesischen Traditionen mit eigenwilliger Deutung zu einer fesselnden Nachschrpfung verbanden. Willy Harmer hat sich bei seiner Arbeit im Chinainstitut bewundernswerte Kennt- nisse der klassischen chinesischen Sprache erarbeitet, die ihn bald schon zu seinen ersten Beitr~igen zur Geschichte der Wissenschaften fiihren sollten. Doch nicht minder beherrschte er das gesprochene Wort. Er lud Freunde und Schiiler gem zu chinesischem Essen ein und ich entsinne mich, daf~ er einmal einem chinesischen Kellner seine Wiinsche in flieflendem Chinesisch mitteilte, worauf dieser ein wenig griJn anlief und sich entschuldigend uns in Deutsch verriet, daft zwar sein Vater Chinese, doch seine Mutter Deutsche sei und man in seinem Ekernhaus nur so wenig Chinesisch gesprochen habe, daiS er die Sprache kaum beherrsche. Willy Hartner hat zu den Ubersetzungen Richard Wilhelms hrchst lesenswerte Erl~iuterungen zu kalendarisch-astronomischen Fragen (28.1) (30.1) beigesteuert und an sie eine kurze Darstellung chinesischer Kalender- wissenschaft (30.2) angeschlossen, die immer noch als ausgezeichnete Einlei- tung in dies Gebiet geken darf. Die Geschichte kalendarischer Systeme und der Zeitrechnung hat Willy Harmer sein ganzes Forscherleben hindurch besch~if- tigt. Er hat sp~iter in Frankfurt einzigartige Vorlesungen iJber diese Gegen- st~inde gehalten, die er wie kein anderer kannte. Es ist bedauerlich, daiS er, seiner eigenen Arbeit gegeniiber stets fiber die MaiSen anspruchsvoll, nur so wenig yon seinen Ergebnissen fiir der Publikation wert hiett. Durch diese ersten Beitr~ige zur Geschichte der chinesischen Wissenschaft kam Willy Hartner in BeriJhrung mit Paul Pelliot, dem wohl bedeutendsten Sinologen der Zeit. Pelliot ~iuiSerte sich zun~ichst sehr kritisch, zeigte sich aber von den Gegenargumenten, die sein junger Kollege ihm in einem sechs Seiten langen Brief vortrug, so beeindruckt, daf~ sich eine immer engereVerbindung kniipfte. Willy Hartner hat dann bei Pelliot in Paris studiert und sich gern zu seinen Schiilern gez~ihlt. Mit groiSer Dankbarkeit hat er das warme Interesse hervorgehoben, das der g_Itere an seiner Person und Arbeit genommen hat. Aus dem Gedankenaustausch mit Pelliot ist die erste groiSe Arbeit Willy Hartners hervorgegangen, seine Untersuchung iiber die Shih-ching-Finsternis (35.1), das erste Ereignis dieser Art, das in China in einer literarischen Quelle erw~ihnt wird. Schon chinesische Gelehrte der Han-Zeit hatten eine Datierung 6 Matthias Schramm versucht, die schliefllich auch im Westen Eingang gefunden hatte. Willy Hartner konnte nachweisen, daft diese traditionelle Datierung auszuschlieigen und daft die Finsternis auf den 30. November des Jahres 735 v. Chr. gesetzt werden mug. In Willy Hartners Abhandlung verbinden sich philologisch- interpretatorisches K6nnen und die zur Nachprfifung erforderliche Beherr- schung der astronomischen Theorie in glficklichster Weise. Sie liefert eine Ffille von Einzelbeobachtungen zum Shih-ching, dem friihesten Dokument der chinesischen Literatur, wie zur Geschichte der spiiteren chineslschen Astrono- mie der Han-Zeit, insbesondere auch zum Verst~indnis des Verfahrens, aufgrund dessen die chinesischen Astronomen zu ihrer Fehldatierung gelangt waren. An dieser Arbeit Willy Hartners beeindruckt wie an allen seinen sp~iteren die unnachgiebige Sorgfalt, mit der jede kleinste Einzelfrage und Schwierigkeit berficksichtigt und angegangen, nichts fiberspielt oder vernachliissigt wird. Gerade aus dieser Aufmerksamkeit auch gegenfiber dem Kleinsten und scheinbar Unbedeutendsten hat Willy Hartner wieder und wieder die wichtig- sten Ergebnisse gewonnen. Er beherrschte wie wenige die Kunst im Einzelnen und zuf/illig Scheinenden das Allgemeine und Wesentliche sichtbar zu machen. Ffir den, der auf gieichem Gebiet arbeltet, sind Hartners Untersuchungen einfach dadurch unentbehrlich, daft der Benutzer auf ihnen als in jedem Punkt sicherer und zuverliissiger Grundlage weiterbauen kann. Sie sind exakt in dem Sinn, in dem dieser Terminus einmal ursprfinglich im 17. Jahrhundert in unsere neue Wissenschaft eingeffihrt worden war: alles in ihnen ist aufs Sorgf/iltigste vom Verfasser selbst geprfift 6. Willy Hartner hat sich damals noch zu einer zweiten orientalischen Sprache den Zugang verschafft. Er hat sich unter Anleitung des Orientalisten Josef Horovitz, der sich um die Erforschung der frfihen Welt des Islam so grof~e Verdienste erworben hat, in die arabische Schriftsprache eingearbeitet, die ibm dann, als die gelehrte Sprache der muslimischen Welt, den Zugang zu deren Naturwissenschaft er6ffnete. Vor allem waren es die astronomischen Leistun- gender arabischen Kultur, die Willy Hartner in ihren Bann zogen. Lexikogra- phische und begriffsgeschichtliche Hilfsmittel ffir solche Studien gab es seinerzeit so gut wie nicht; nur ein einziges astronomisches Tafelwerk, das des A1-Batt~mi, tag in einer kritischen und wohlkommentierten Ausgabe vor. Der Forscher war darauf angewiesen, sich durch Lektfire yon Handschriften v611ig auf sich gestellt in die schwierige und im Theoretisch-Astronomischen recht anspruchsvolle Materie einzuarbeiten und sich nach und nach selbst die erforderlichen Hilfsmittel zu schaffen. Willy Hartner hat das von ihm erarbeitete Wissen sofort in groflziigiger Weise allen Forschern durch seine Artikel in der Enzyklopaedie des Islam zug~inglich gemacht. Er verfaf~te dort die Artikel fiber 'U~rid, den Planeten Merkur (34.1); vom Artikel Zam~n (Zeit), den Teil zur Zeitrechnung (34.2); weiter die Artikel fiber Zenit (34.3); Zuhal, den Planeten Saturn (34.4); al-Zuhara, den Planeten Venus (34.5); 6 In diesem Sinn Rihrt beispielsweise Thomas Sprat den Begriff der exactness in seiner History of the Royal Society (ed. with critic, app. by Jackson I. Cope and Harold Withmore Jones, St. Louis and London 1959) p. 86 ein. Willy Hartner (1905-1981) Min.taka (den Tierkreis) (36.1); Muk.~bala (Opposition im astronomischen Sinn) (36.2); al-Mushtari, den Planeten Jupiter (36.3); Muthallath, Dreieck (36.4); Nadir (36.5); al-Nahr, das Sternbild des Flusses (36.6); Nfir, das Licht (36.8). Wenn die Erforschung der arabischen wissenschaftlichen Literatur zu einem der Gebiete geworden ist, auf dem in diesem Jahrhundert besonders umfangreiche, augenfiillige und iiberraschende Ergebnisse erzielt worden sind, so haben dazu die Hartnerschen Beitr~ige in erheblichem Marl den Weg bereitet. Auch hier hat er wieder eine sichere Grundlage geschaffen, auf der andere weiter arbeiten konnten. Die Miihe, die diese an durchweg unver6ffent- lichten Quellen und in einer ~iuferst schwierigen Materie gewonnenen Ergebnisse bereitet haben, hat sich gelohnt. Auf keinem Gebiet der Geschichte der Wissenschaften k6nnen wir heute einen solchen Zuwachs an Wissen verzeichnen, wie auf dem der arabischen Wissenschaft. Die Universit~it Frankfurt hatte noch auf einem weiteren Gebiet Anregun- fen zu bieten, die ffir Willy Hartner von entscheidender Bedeutung geworden sind, n~imlich durch ihr V61kerkundeinstitut und seinen genialen Leiter Leo Frobenius, der die Vielfalt ethnologischer Methoden unter einem umfassen- den, kulturmorphologischen Gesichtspunkt miteinander verband und bei seinen welt gespannten Untersuchungen auch die Briicke zu den alten Hochkulturen zu schlagen verstand. Durch Frobenius und seine Mitarbeiter kam Willy Hartner in engste Beriihrung mit der ethnologischen Forschung der Zeit. Er hat zu den Diskussionen im Frankfurter V61kerkundeinstitut Wichti- ges beigesteuert und hat die Schiitze der Institutsbibliothek nach Kr~ten genutzt. Solche Studien haben dazu beigetragen, eine Eigentiimlichkeit der Hartnerschen Untersuchungen besonders stark sich entwickeln zu lassen, die sie vor den meisten Arbeiten der Fachgenossen auszeichnet: die Einbeziehung nichtliterarischen Materials. Die iibliche Art und Weise, in der die Geschichte der Wissenschaften behandelt wird, ist fast ausschlieflich auf die literarischen Quellen ausgerichtet und es wird dabei geflissentlich iibersehen, daf so nur ein Ausschnitt und Teil der Wirklichkeit in den Blick rfickt, den die lebendige Wissenschaft in einer Kultur und ihrer Entwicklung darstellt. Ganz besonde- res Gewicht erhalten solche Quellen dort, wo die literarischen uns v611ig im Stich lassen. Willy Hartner hat Wissenschaft stets im Rahmen der Gesamtheit der sie tragenden und von ihr mitgetragenen kulturellen Abliiufe gesehen. Er hat jeweils mit sicherem und geiibten Blick auch dort seine Quellen entdecken k6nnen, wo sie gemeinhin iibersehen werden. Er vermochte zu zeigen, daft in Sprachgeschichte und Mythen, archiiologischen Funden und ethnographi- schem Material, daft in der Ikonographie der bildnerischen Werke der Hoch- wie Primitivkulturen Versuche des menschlichen Geistes sichtbar werden, die Natur zu begreifen. Willy Hartn,er hat durch all seine Arbeiten hindurch diese Technik, die sich unter der Bezeichnung einer Arch~iologie naturwissenschaft- lichen Denkens am ehesten noch fassen liege, durch sein ganzes Schaffen hindurch entwickek, mit unvorstellbarer Ausdauer einschl~igige Fakten zusammengetragen, gesichtet, verglichen und ausgewertet. Schon friih hatte Willy Hartner Beziehungen zu den skandinavischen L~indern, vor allem zu Norwegen aufgenommen. Er hatte alsbald die 8 MatthiasSchramm nordischen Sprachen erlernt, sowohl die lebenden wie ihre historischen Vorstufen. Er war in der Kultur der skandinavischen LL, lder heimisch geworden und hatte ihre Literatur sch~itzen und lieben gelernt. Ibsens ebenso unerbittlichen wie in die Tiefe dringenden Kampf mit der Liige, der jetzt erst wieder in weiterem Umfang gewiirdigt zu werden scheint, Hamsuns lyrische Prosa, seine zwischen Gipfel und Abgrund pendelnden Gestalten mit ihren Gespr~ichen voll hintergriindigen Scharfsinns: Willy Hartner kannte all dies aus den Urtexten und verstand es in lebendigem Gespr~ich auch dem nahe zu bringen, der die Sprache der Originale nicht beherrschte. Seine Kenntnis der nordischen Kultur wurde der Anlafl zum ersten Lehrauftrag. Am 8. Dezem- ber 1931 wurde er v o n d e r Universit~it Frankfurt zum Lektor f/Jr nordische Sprachen bestellt. Er hat dieses Amt Jahrzehnte hindurch wahrgenommen, bis es sp~iter seine Tochter Randi Agnete iibernahm. Im Jahre 1932 hat Willy Hartner in Oslo die Norwegerin Else Eckhoff geheiratet und so die Verbindung zum europ~iischen Norden noch enger gekniipft. Beider Bekanntschaft reicht welt bis in ihre Schulzeit zuriick. Alle Freunde Willy Hartners, die in seinem der Musik und der Geselligkeit stets offenen und zugetanen Heim ein- und ausgehen durften, haben die Harmonie empfunden, die beider Gemeinsamkeit beherrschte und das Matg an Liebe geahnt, das aus ihr sprach. Sie hat ihnen in der schweren Zeit geholfen, die mit dem Jahre 1933 fiir sie beide begann. Else Hartner gewann von ihrer neuen Heimat einen Eindruck, wie er grauenhafter kaum sein konnte. Es bedurfte nicht der B/icherverbrennung auf dem Frankfurter R6merberg, um vorauszu- sehen, was Willy Harmers Lehrern und Freunden bevorstand. Die N(irnber- ger Gesetze des Jahres 1935 lieflen es dann nur aUzu deutlich werden. Der Exodus der ihrer Abstammung oder Uberzeugung wegen Verfemten begann. Gerade die Mathematik und die naturwissenschaftlichen F~icher wurden hart betroffen. Die hohe BRite, die weltweite Bedeutung, die sie in den zwanziger Jahren erreicht hatten, wurde so griindlich erstickt, daft sie sich bis heute nicht davon erholt haben. Im Jahre 1935 konnte Willy Hartner als Gastprofessor fiir Geschichte der Naturwissenschaft an die Harvard University gehen. Dort wirkte George Sarton, der im Jahre 1913 mit der Zeitschrift Isis das Organ fiir die Geschichte der Naturwissenschaft geschaffen hatte, das bald zu dem Forum des Fachs wurde. Von 1928 an erschienen die B~inde seiner Introduction to the History of Science 7, in denen er eine Summe aus dem damals erarbeiteten Wissen zog und ein Werk schuf, das nicht nur zur Unterrichtung fiber die wichtigsten Punkte aus der Geschichte der Naturwissenschaft und iiber die zu ihnen erschienenen Arbeiten unentbehrlich ist, sondern dar/iber hinaus die Aufgaben eines Handbuchs in ungew/Shnlich lesbarer Weise meistert. Sarton arbeitete ganz anders als Willy Hartner. Zwar trafen sich beide in dem weiten Rahmen, in dem sie Naturwissenschaft jeweils als Teil umfassender kultureller Entwick- tungen behandelten und in der Vielfalt der Bez~ige, die sie dabei beriicksichtig- ten; doch ihr Vorgehen war grundverschieden • George Sarton suchte sein Ziel 7 3 vols., Baltimore 1928-1947, Carnegie of Washington Publication Nr. 376. Willy Hartner (1905-1981) 9 durch Zusammentragen alles verffigbaren Materials, durch eine umfassende Synthese zu erreichen, w~ihrend Willy Hartner stets durch das Yerfolgen eines Einzelproblems in all seinen Ausstrahlungen und Folgen, durch eine tiefgrei- fende Analyse, zu universalen Zusammenhiingen vordrang. George Sarton verfuhr wie der Rechen, der alles Erreichbare zusammenrafft; Willy Hartner wirkte gleich einem Keil, der noch an der sprSdesten Stelle des Materials eindrang, seiner Struktur folgte und es schliefllich fiber unabsehbare Strecken hinweg aufspaltete, den Zugang in kaum erahnte Bereiche erSffnend. Gerade dieser Gegensatz hat Willy Harmer noch st~irker sich seines eigenen Weges bewut~t werden lassen; und dennoch hat er stets betont, wie viel er gerade durch die Verbindung mit dem so ganz anders vorgehenden George Sarton gelernt hat. Es geh6rt heute in den Fachkreisen der Vereinigten Staaten sozusagen zum guten Ton, ,Sartonian' als eine Art von abf~illiger Bewertung zu verwenden, wenn begriffsloses Aufgehen im Stoff der Kritik unterzogen werden solL In jfingerer Zeit hat sich dort problemorientierte Forschung, so, wie sie Willy Hartner vorbildlich vertreten hat, mehr und mehr durchgesetzt. Gleichwoh| glaube ich, in seinem Sinn zu sprechen, wenn ich gegen die hier zutage tretende Fehleinsch~itzung Einspruch erhebe. Es sei vor allem auf die Wfirdigung verwiesen, die Willy Hartner George Sarton und seinem Werk gewidmet hat (57.3) und die aufgrund eingehender Kenntnis ein wesentlich anderes Bild als das heute fibliche zeichnet und uns daran erinnert, was wir George Sarton zu verdanken haben. Willy Hartner hat als Gastprofessor an der H a z a r d University eine Vielzahl von neuen Verbindungen geknfipft. Er hat seinerzeit die Grundlage ffir die engen Beziehungen gelegt, die ihn sp~iter immer wieder an diese Universit~it zurfickkehren lie£en. Seine Erfahrungen mit einem ganz anderen System der Ausbildung haben ihn sp~iter oft gegen den Provinzialismus opponieren lassen, von dem unser eigenes Universit~itssystem wieder und wieder bedroht worden ist und wird. Seine damals entstandene grofle Untersuchung fiber die pseudo-planetari- schen Mondknoten in der Ikonographie des Hinduismus und des Islam (38.2) geben zum ersten Mal einen Eindruck yon jenen dutch ihn vorangetriebenen Studien, die sozusagen eine Art von Arch~iologie der naturwissenschaftlichen Ideengeschichte liefern. Zun~ichst ein zentraler Begriff in der Finsternistheorie, wird die Vorstellung der Mondknoten mit uralten mythischen Anschauungen von einem die Himmelsleuchten verschluckenden Drachen verbunden, bis sie schlie~lich eigenes Leben gewinnen und als zwei zus~itzliche Scheinplaneten neben die herkSmmlichen sieben Planeten treten und deren Anzahl um zwei vermehren. Wie weit diese Hypostasierung eines zun~ichst rein theoretischen Begriffs geht, zeigen deutlicher als die literarischen Auseinandersetzungen die Sch/Spfungen der bildenden Kunst. Diese Untersuchung gibt ein besonders eindrucksvolles Beispiel ffir die Mannigfaltigkeit der Gesichtspunkte, die sich in ihr miteinander verbinden. Es geht einerseits um die Wechselwirkung zwischen Mythos und theoretischer Errungenschaft, andererseits um den sinnf~illigen Ausdruck, den eben diese Wechsetwirkung in der bildenden Kunst 10 Matthias Schramm gefunden hat und dies ffir zwei Kulturkreise, den hinduistischen und den muslimischen, fiber deren Beziehungen zueinander wir so ganz Neiaes erfahren, das die literarischen Quellen allein hie zu vermitteln imstande gewesen wiiren. Auch in Willy Hartners aus der gleichen Zeit stammender Studie fiber Prinzip und Gebrauch des Astrolabs (39.2) verbindet sich eindringende Kenntnis des theoretischen Schrifttums mit einer Analyse dessen, was uns die der Praxis der Instrumentenbauer entstammenden Artefakte zu sagen haben. Das Astrolab besteht im wesentlichen aus einer stereographischen Projektion des Fixsternhimmels, die um das Bild des H3mmelsnordpols drehbar fiber einer gleichartigen Projektion des Koordinatensystems von H6hen- und Azimutalkreisen angebracht ist, verbunden mit einer Visiervorrichtung zum Messen yon H6hen. Dieses Ger~it, eine Art yon Rechenschieber ffir die Himmelsbewegungen, an dem sich die Grundaufgaben der sph~irischen Astronomie unmittelbar durch Ablesen 16sen lassen, ist vor allem von den Arabern im Anschlu~ an die griechische Tradition ausgebildet worden. Willy Hartners Artikel gibt noch immer die beste Einffihrung in den Fragenkom- plex, der mit diesem Geriit zusammenh~ingt. Der durch dieses Instrument gegebene praktische Umgang mit Projektionsverfahren war ffir die Ausbildung eines Funktionsbegriffs in der Naturwissenschaft von zentraler Bedeutung und sicherlich yon erheblicherem Gewicht als die oft iibersch~tzten Versuche des lateinischen Westen, Intensit~ten durch eine Art von graphischer Wiedergabe mittels der sogenannten .latitudines formarum darzustellen. Willy Hartner hat sp~iter noch einmal in einem Artikel ffir die Neuauflage der Encyclopaedia of Islam (60.2) die mit diesem Universalinstrument verbundenen Sonderfragen aufgegriffen und weitergeffihrt. Als Willy Hartner in die Heimat zurfickkehrte, fand er eine Diktatur vor, die sich in immer bedrohlicherer Weise radikalisierte. Am 10. November des Jahres 1938 kam es zu jenem Ausbruch des nackten und unverhfillten Terrors, der das ganze Ausmaf~ der Schande schlaglichtartig zeigte, zu dem eine der grof~en Kulturnationen hinabsank. Zu denen, die mutig unter Gefahr von Leib und Leben zu helfen suchten, hat Willy Hartner geh6rt. Noch einmal m6chte ich Carl Ludwig Siegel zitieren, der es als Augenzeuge miterlebt hatS: ,,Der eigentliche Terror in grof~em Maflstab begann in Deutschland am 10. Novem- ber 1938 mit der durch h6chste Stellen veranlaflten Judenverfolgung, wobei bekanntlich die Synagogen verbrannt und vide jfidische Gesch~ifte demoliert und s~mtliche bereits vorhandenen Konzentrationslager mit verschleppten Juden fiberffillt wurden. Damals sind die Schergen Hitlers auch zu Dehn, Epstein und Hellinger gekommen, um sie wegzuschaffen. Nach anf~nglicher Verhaftung wurde aber Dehn von der Polizei noch einmal in seine Wohnung zurfickgeschickt, well nirgendwo in Frankfurt noch Platz ffir die VetTcahrung weiterer Gefangener vorhanden war. Um nicht am n~ichsten Tag erneut eingefangen zu werden, begab sich Dehn mit seiner Frau nach Bad Homburg, wo sie beide bei unserem Freund und Kollegen Willy Hartner ein Asyl fanden. s l.c., p.14 sq. Willy Hartner (1905-1981) 11 Man k6nnte jetzt wieder sagen, Herr Professor Hartner h~itte mit der Aufnahme der Gefliichteten nur das f/ir einen anst~indigen Menschen Selbst- verstiindliche getan, aber damals waren die in diesem Sinn Anst;,indigen in der Minorit~it und so geh6rte Mut dazu, sich eines yon den nationalsozialistischen Machthabem Verfolgten anzunehmen." Willy Hartner selbst hat yon seinen und seiner Freunde Erlebnissen in dieser schweren Zeit in zwei Vortr~igen berichtet, die im Jahre 1961 im Druck erschienen sind (61.3). Sie solken nicht in Vergessenheit geraten und unser Gewissen davor bewahren, das Geschehene zu iibergehen oder ins Gleichgiiltige zu verdr~ingen. Nur so diirfen wir hoffen, die Empfindlichkeit gegen alle Formen des Unmenschlichen zu gewinnen, die allein dazu befiihigen kann, allen in ~hnliche Richtung zielenden Entwicklun- gen entschieden und rechtzeitig zu begegnen, nur so wird sich unser Blick fiir solche Entwicklungen so schiirfen, dab wir sie erkennen und sie bek~impfen k6nnen, in welcher Form auch immer sie uns entgegentreten m/Sgen. Das Unheil, das nun mit dem Zweiten Weltkrieg hereinbrach, hat Willy Hartner mit seiner Familie in Deutschland erlebt. Er hat weiter mit all seinen Kr~ten gegen das Unrecht angek~impft und ist wie durch ein Wunder dennoch nicht in die F~inge der Geheimen Staatspolizei geraten. Er geh6rte dabei nicht zu denen, die keine Furcht kennen, ganz im Gegenteil! Ihm war nur allzu deutlich bewuft, worauf er sich einlief. Er hat mir gelegentlich von seinen Unternehmungen berichtet, die ihn sozusagen bis in die H/Shle des Drachen selbst, bis ins Reichssicherheitshauptamt gefiihrt haben, all seiner Furcht zum Trotz, aus dem Zwang heraus, der Unmenschlichkeit entgegenzutreten und anderen zu helfen. Willy Hartner war von k/Srperlichen Leiden aller Art geplagt. Ich habe hie ein Wort der Klage von ihm geh6rt. Seine Leiden haben ihm den Milit~irdienst erspart. Zwar zog man ihn ein, mufte aber nach kurzer Zeit feststellen, daft er wegen seiner Krankheit nicht in der Lage war, als Soldat zu dienen. Trotz aller Unsicherheit und aller Belastungen, die der Krieg mit sich brachte, hat Willy Hartner welter wissenschaftlich gearbeitet und hat in jenen Kriegsjahren fiir sein Fach Erstaunliches geleistet. Nachdem man ihn seiner politischen Uberzeugungen wegen jahrelang v o n d e r Universit~itslaufbahn ausgeschlossen hatte, konnte er sich endlich im Jahre 1940 habilitieren. Im Jahre 1943 erschien dann seine grofe Untersuchung tiber Zahlen und Zahlensysteme bei Primitiv- und Hochkulturen (43.9). Sie war Max Dehn und seiner Frau gewidmet, die inzwischen nach abenteuerlichen Fluchtwegen in den Vereinigten Staaten eine neue Heimat gefunden hatten. Dank seiner umfassenden Sprachkennmis und aufgrund umfangreicher Studien des ein- schl~igigen ethnologischen Materials und dessen, was die Arch~iologie aus vergangenen Kulturen ans Licht gebracht hatte, konnte Willy Hartner mit d, ieser Untersuchung die umfassendste und in der Vielzahl der eingebrachten Gesichtspunkte bis heute nicht iibertroffene Analyse dieser vielschichtigen Problematik vortegen. Nicht von ungef~ihr stellen ZahlwSrter gewissermafen Leitfossilien dar, die es gestatten, auf die Verwandtschaftsverhiiltnisse yon Sprachen riickzuschliefen. Dies darf als Anzeichen dafiir gewertet werden, in wie tiefe Schichten die Zahlvorstellungen beim Menschen hinabreichen. Willy 12 Matthias Schramm Hartner hat sich in seiner Untersuchung datum bemiiht, diesen weiteren Zusammenhang deutlich werden zu lassen. Er hat insbesondere gezeigt, dat~ Zahlen und Zahlw6rter in ihrem Zusammenhang mit den Vorstellungen gesehen werden miissen, die der Mensch fiir die r~iumlich-zeitliche Gliederung seiner Umwek entwickek hat und auf denen letztlich sicti all das aufbaut, was in unseren mathematischen Disziplinen begrifflichen Ausdruck gewinnt. Der Willy Hartner besonders gewogene Stadtk~immerer Lehmann setzte sich fiir seine Arbeit ein, und im Jahre 1943 hatte der damalige Oberbiirger- meister Krebs den Mut, die Griindung eines Instituts fiir Geschichte der Naturwissenschaften zu erm6glichen. Heute ist es das iilteste in Deutschland. Es ist abet - das sei kurz angemerkt - nicht das erste gewesen. Schon im Jahre 1922 hatte der Mineraloge Julius Ruska mit Hilfe der J. und E. von Portheim-Stiftung in Heidelberg ein Institut fiir Geschichte der Naturwissen- schaften griinden k6nnen, das die Erforschung arabischer Wissenschaft in Deutschland eingeleitet und das bis zum Jahre I927 bestanden hat. Vom Jahre 1928 an hat Julius Ruska der Abteilung fiir Geschichte der anorganischen Naturwissenschaften im Berliner Institut fiir Geschichte der Medizin und Naturwissenschaften vorgestanden, bis es im Krieg v611ig zerst6rt wurde. Julius Ruska hat rich vor allem der arabischen, chemischen und alchemisti- schen Literatur angenommen. Er hat, zusammen mit seinem genialen Schiiler Paul Kraus, die Grundlagen geschaffen, auf denen noch heute weitergearbeitet wird. Kraus, der unter dem Druck der nationalsozialistischen Herrschaft nach Agypten emigrieren muflte, hat dort noch eine grot~artige und in Folge des Krieges viel zu wenig bekanntgewordene Zusammenfassung des Erreichten ver/Sffentlicht 9. Julius Ruska hat mit Willy Harmer zusammen einen Katalog der orientali- schen und lateinischen Originalhandschriften, Abschriften und Photokopien des Berliner Instituts (40.1) herausgegeben, der Grunds~itztiches zur Kl~irung der komplizierten bibliographischen Verh~iltnisse beigetragen hat, die den Zugang zu diesen Quellen erschweren, und der dadurch, trotz des Untergangs des zugrundeliegenden Materials, nach wie vor seine Bedeutung hat. Die gemeinsame Arbeit hat Willy Hartner auch pers6nlich mit Julius Ruska freundschaftlich verbunden. Der )~ltere muff atle Tugenden eines deutschen Gelehrten von altem Schlag verk6rpert haben, gepaart mit einer gewinnenden Lauterkeit des Charakters und einer rigorosen Verurteilung alles durch die damaligen Machthaber begangenen Unrechts. Willy Hartner hat mir berichtet, wie er noch nach dem Kriege Julius Ruska gelegentlich besucht hat, der wegen nachlassenden Augenlichts kaum noch zu wissenschaftlicher Arbeit imstande war und halb im Scherz, halb im Ernst erkl~irte, er tauge nur noch dazu, seine Enkel zu hiiten. Was ihm an wissenschaftlichen Materialien verblieben war, schenkte er bereitwillig dem Jiingeren, der es als willkommene Gabe der Bibliothek des neuen Instituts einverleibte. Kam die Rede auf Julius Ruska, so 9 J~bir ibn .ITIayy~.Contribution ~ l'histoire des id6es scienfifiques darts l'Islam. Voll. 1.2. Kairo 1941-t942 (M6moires de l'Institut d'Egypte, tt. 44.45), Willy Hartner (1905-1981) 13 schlofl Willy Hartner seinen Bericht g e m mit den Women: ,,Ja, das war ein Ehrenmann !" Das neugegr/.indete Institut war in der Robert-Mayer-Strafle 2-4 zusammen mit der Sternwarte untergebracht. Schon im n~ichsten Jahr, bei den Bombenan- griffen vom 18. bis 20. Mai 1944, w u r d e es zerst6rt, doch k o n n t e der gr6flere Teil der Bibliothek gerettet werden. Das Institut fand dann sp~iter in der Feldbergstrafle 47 eine vorl~iufige Bleibe, bis es yon 1950 an im wiederinstand- gesetzten Seitentrakt des Universit~itshauptgeb~iudes, in dem damals die naturwissenschaftliche Senckenberg-Bibliothek untergebracht war, fiber deren R~iumen zusammen mit dem Institut fiir Geschichte der Medizin fiir mehr als ein Jahrzehnt eine Bleibe fand. D o r t hat Willy Hartner, unterstiitzt zun~ichst von R u t h Martin als Sekret~irin, dann von seiner iiber Jahrzehnte hinweg bis zu seinem Tod am Institut tiitigen Mitarbeiterin Hertha von Dechend gewirkt. Nach dem Ende des zweiten Weltkrieges sah sich Willy Hartner im iibertragenen wie im buchstiiblichen Sinn in Frankfurt einem Triimmerfeld yon riesigen Ausmaflen gegeniiber. Er hat zu den wenigen geh6rt, die v o n d e r Stunde Null an ihre Kriifte fi~r den Wiederaufbau der Universit~it zur Verfiigung stellen k o n n t e n und w o l h e n u n d denen es schlie£1ich gemeiiasam mit dem verstiindnisvollen amerikanischen Universit~its-Offizier E. Y. Hart- shorne gelang, die Universitiit zu neuem Leben zu erwecken. Schon im April des Jahres 1945 hatte eine kleine G r u p p e von Mitgliedern des Lehrk6r- pers, deren entschiedene Gegnerschaft gegen die nationalsozialistische Herr- schaft sie dazu berechtigte wie verpflichtete, sich zu Beratungen iiber den Wiederaufbau der Universitiit zusammengefunden. Das einzige, der Mititiir- Regierung durch seine T~itigkeit als Gastprofessor an der Harvard University bekannte Mitglied des Lehrk6rpers war damals Willy Hartner. U n d so trat man jetzt von seiten der Militiir-Regierung an ihn heran, u m die anstehenden Fragen zu er6rtern. Der Universit~its-Offizier Hartshorne war D o z e n t eben- falls an der Harvard University gewesen und hatte in eigenen Studien die Verh~iltnisse an den deutschen Universit~iten unter der nationalsozialistischen Herrschaft behandelt. Er hat zuniichst als Universitiits-Offizier in Marburg, dann in Frankfurt gewirkt u n d dafi~r gesorgt, daft eine Gruppe von Mitglie- dern des Lehrk6rpers yon der Milit~ir-Regierung offiziell als Wiederaufbauaus- schuf~ bestiitigt wurde. Willy Hartner fiel w~ihrend dieser Zeit der ersten Bemiihungen u m den Wiederaufbau die schwere Aufgabe des Verbindungs- manns zur Milit~ir-Regierung zu, wobei ihm seine Erfahrungen an der Harvard University einschliefllich seiner vorziiglichen Sprachkenntnisse sehr zu statten kamen. So hat er mir berichtet, daf~ einer der Vertreter der Militiir-Regierung sich ereiferte u n d ihn anschrie: ,,You m u s t be consequent !" Darauf habe er bemerkt ,,You mean ,consistent'". Es habe sich herausgestellt - was er aufgrund des von dem Betreffenden gesprochenen Englisch l~ingst vermutet habe - daft sein Gespr~ichspartner in die Vereinigten Staaten emigriert war, und der U m g a n g mit ihm sei hinfort in h6flicheren F o r m e n verlaufen. Man schuf seinerzeit zuniichst einmal ein F o r u m Academicum, das hervorragende Redner aus dem In- und Ausland gewann, die vor einem dicht gedriingten P u b l i k u m in einem n u r notdiirftig hergerichteten u n d ungeheizten H6rsaal 14 Matthias Schramm sprachen. Das Forum Academicum hat manchem der Jiingeren zum ersten Mal das Erlebnis einer freien Aussprache vermittelt. Es half die Wiederer6ffnung der Universitiit vorbereiten. Daf~ es dazu schon am 1. Februar des Jahres 1946 kam, war damals alles andere als selbstverst~indlich. Es gab bei der Militiir- Regierung Bestrebungen, die Universit~it auf eine medizinische Akademie zu reduzieren. Daft es dazu nicht gekommen ist, das war das Verdienst des Universit~itsoffiziers Hartshorne, des Wiederer6ffnungsausschusses und nicht zuletzt das Willy Hartners. Nach Uberwindung dieser Anfangsschwierigkeiten begann erst der eigentli- che Wiederaufbau. Auch hier hat Willy Hartner all seine Kr~ifte ~ r diese Aufgabe zur Verfiigung gestelk. Am 28. August des Jahres 1946 war er zum Ordinarius fiir sein Fach berufen worden und hat weiterhin am Wiederaufbau, in und au£erhalb der Setbstverwaltung der Universit~t entscheidend mitge- wirkt. Wiederholt hat er seiner naturwissenschaftlichen Fakult~it in diesen Jahren als Dekan gedient. Vor allem hat Willy Hartner dazu beigetragen, daft die zerrissenen F~iden zu auskindischen Universit~iten wieder angekniipft wurden. Man iibertrug ihm die Auslandsstelle der Universit~it, fiir die er dank seiner mannigfaltigen Auslandskontakte wie kein anderer geschaffen schien. Er hatte wesentlichen Anteil am Zustandekommen des ersten groflen Austausch- programms mit der Universitiit Chicago. Seminare, an denen die Giiste aus Chicago zusammen mit deutschen Kollegen wirkten, wurden zu einer festen Einrichtung. Im Jahre 1949 weilten zum ersten Mal zwei Frankfurter Professoren auf Einladung der Partneruniversit~it in Chicago: der klassische Philologe Karl Reinhardt und Willy Hartner. Im Jahre 1955 war Willy Hartner erneut Gast der Universit~it Chicago. Im Jahre 1960 fand in Frankfurt ein Chicago-Seminar zur Frage von Klassizismus und Kulturverfall statt. Willy Hartner hat die Beitriige zusammen mit Gustav E. von Grunebaum in einem Sammelband herausgegeben (60.7). Einen Bericht iiber die ersten Schritte zur Zusammenarbeit mit der ausliindischen Wissenschaft hat Willy Hartner schon im Jahre 1950 ver6ffentlicht (50.5). Die vielfiiltigen Aufgaben, zu denen ihn der Wiederaufbau der Universit~it rief, lief~en Willy Hartner nur wenig Zeit fi~r seine eigene wissenschaftliche Arbeit. Dennoch entstanden damals wichtige Beitr~ige: in seinen Studien zur Symbolik der friihchinesischen Bronzen (49.3) hat Willy Hartner an die Untersuchungen von Carl Hentze angekniipft, und dabei das von diesem vorgelegte und behandelte Material in wesentlichen Punkten einer neuen Deutung unterzogen. Hentze hatte in vielen FiiUen angenommen, daf~ die auf den Bronzen zu findende Symbolik sich auf den Mond beziehen miisse. Demgegeniiber konnte Willy Hartner zeigen, daft es sich vielmehr eindeutig um Darstellungen handeln miisse, die sich auf die j~ihrlichen Erstaufg~inge von Sternbildern (heliakische Aufg~inge) beziehen, die man in fast allen friihen Kulturen vorzugsweise zur Bestimmung des Sonnenlaufs herangezogen hat. Diese zuniichst au£erordentlich speziell anmutende Auseinandersetzung iiber eine arch~iologische Sonderfrage sollte Willy Hartner sp~iter zu einem seiner wichtigsten Ergebnisse fiihren. Willy Hartner (1905-1981) 15 Ein anderer bedeutsamer Beitrag aus dieser Zeit gait einem chinesischen Text, der iiber eine zur Mongolenzeit erfolgte Gesandtschaft aus Persien berichtet, bei der eine Reihe von astronomischen Instrumenten aus dem persisch-arabischen Kulturkreis nach China gelangt ist (50.4). Der chinesi- sche Berichterstatter hat, so gut er das vermochte, die arabischen Bezeichnun- gen fiir die Ger~ite phonetisch wiedergegeben und Willy Hartner konnte nun Punkt fiir Punkt ermitteln, um welche Ger~ite es sich gehandelt haben muig. Fiir unsere Kennmis der Kulturbeziehungen zwischen dem nahen und fernen Osten waren diese Ergebnisse yon grundlegender Bedeutung. Die Frage des Kulturaustauschs hat seither Willy Hartner nicht mehr losgelassen u n d e r hat sich wieder und wieder mit ihr und der Frage des Entstehens und Vergehens yon Kulturen intensiv besch~iftigt (57.1) (58.1) (60.6). Von Willy Hartners Arbeiten aus dieser Zeit sollte hier noch eine genannt werden, weit sie besonders deutlich die eigentiimliche Art seines Forschens zeigt: seine Untersuchung i~ber das Merkurhoroskop des Venetianers Marc- antonio Michiel (55.1). Der Titel l~if~t zun~ichst eine Spezialuntersuchung zur Geschichte der Astrologie erwarten, und so kommt es dann auch. Das aber ist nur der Anfang der Uberlegungen. Es zeigt sich dabei, dais die ptolemgische Punkt-fiir-Punkt-Konstruktion der Planetenbahnen zu ganz neuen Entwick- lungen Anla~ gibt, sobald man einmal beginnt, die entstehenden Bahnen nicht nut punktweise sondern als zusammenh~ingende Kurven auszukonstru- ieren. Die Tr~igerkurve fiir den Epizykel des Merkur in der ptolem~iischen Theorie, die dort seiner Bahnellipse entspricht, erweist sich bei diesem Verfahren als eine Kurve, die yon einer Ellipse nahezu ununterscheidbar ist. Die Voraussetzungen, unter denen Kepler nach seinen langwierigen Versuchen mit allen m6glichen Arten yon Kurven bei seinen Untersuchungen zur neuen Astronomie schlieiglich zur Ellipse als Bahnkurve gekommen ist, erscheinen aufgrund dieser Ergebnisse Willy Hartners in einem v611ig neuen Licht. Die Astronomie des Mittelalters und der Renaissance hatte aus den ptolem~iischen Ans~itzen durch solches Auskonstruieren der Tr~igerkurven fiir die Epizykel im Fall des Merkur M6glichkeiten gewiesen, die im Werk des Ptolem~ius selbst iiberhaupt noch keine Darstellung gefunden hatten. Die Zusammenh~inge, auf die Willy Hartners Analyse hier gefiihrt hat, zeigen mit aller Deutlichkeit, daf~ die heute iiblichen Vorstellungen yon einem Wechsel der theoretischen Muster aus denen die Entwicklung der neueren Planetentheorie erkl~irt werden soil, hier v611ig versagen miissen, weil die grundlegenden Verh~iltnisse zu einfach gesehen werden. Im Winterhatbjahr 1949/1950 habe ich an der Universit~it Frankfurt studiert und habe dort zum ersten Mal Willy Hartner geh6rt, der damals iiber Probleme der antiken und mittelalterlichen Astronomie insbesondere iiber Geminus las. Als ich nach Frankfurt kam, habe ich nichts yon Willy Harmer gewu£t, sondern ging dorthin, um Karl Reinhardt zu h6ren. Er und Theodor W. Adorno wiesen reich dann nachdriicklich auf Willy Hartner hin; er sei der rechte Mann fiir mich und damit hatten sie recht. Seine Vorlesungen stellten das genaue Gegenteil dessen dar, was uns in einer roll durchp~idagogisierten Universit~it yon der Hochschuldidaktik als Muster 16 Matthias Schramm angepriesen wird. Er wollte seinen H~Srern nicht Wissensstoff vermitteln, nicht ihnen in wohlgegliederter F o r m das mitteilen, was sie einfacher und besser h~itten nachlesen k S n n e n : es ging ihm u m seine Probleme, u n d wie wir mit solchen Problemen umzugehen h~itten, das hat er uns gelehrt. Er brachte stets einen mit sorgf~iltig ausgearbeiteten Aufzeichnungen gefiillten Aktendeckel mit und bemiihte sich zun~ichst, anhand des dadurch vorgegebenen Leitfadens vorzugehen. D o c h was der Aktendeckel enthielt, das war im G r u n d e kein Vorlesungsmanuskript, so wie sie heute hektographiert oder xerokopiert an die H 6 r e r verteilt werden: es waren Unterlagen fiir die Arbeit an Problemen, Versuche zu ihrer Lbsung, dafiir entworfene Rechnungen, Konstruktionen, sorgf~iltig aufgezeichnete Belege iiber weiterreichende Beziige, fiber Parallelen aus anderen Zusammenh~ingen. Willy Hartner besafl die Gabe, seine H 6 r e r an der Arbeit, die er leistete, unmittelbar teilnehmen zu lassen. Jahre hindurch habe ich seine Vorlesungen geh6rt, niemals hat er irgend etwas wiederholt - u n d ich habe Professoren erlebt, die dieselbe Vorlesung mit demselben Witz an derselben Stelle in sch6ner Regelm~irligkeit vorfiihrten. Was Willy Hartner vortrug, das war weniger durch den Titel der Vorlesung als durch die Probleme bedingt, an denen er gerade arbeitete; und was er vortrug, das konnte man nirgends nachlesen, d e n n es waren seine Probleme, seine Erw~igungen, seine Ergebnisse und nicht die eines anderen. Als ich noch studierte, hat mir ein Professor einmal versichert, ich wiirde in meinen Anspriichen, die ich an Vorlesungen stellte, noch sehr bescheiden werden, sollte ich selbst einmal Vorlesungen halten. Mich hat das ge~irgert und ich war u m so begeisterter yon einem Dozenten wie Wi.lly Hartner, der oft fiber unsere K6pfe hinweggesprochen haben mag, der aber mit uns so sprach, als w~iren wir seinesgleichen gewesen. Ich meine, darl ich als Student vieles nicht verstanden habe, aber eine gute Nase dafiir hatte, ob in dem Vorgetrage- hen etwas von Bedeutung enthalten war oder nicht; und ich glaube, daft es meinen Kommilitonen ebenso ging. Wir m6gen vieles, was Willy Hartner uns vorgetragen hat, gar nicht recht haben wiirdigen k6nnen, weil uns die Voraussetzungen zur Beurteilung fehlten, aber wir haben keinen Augenblick gezweifelt, darl es von Bedeutung war. Manches habe ich erst viel sp~iter recht verstanden. Ich weirl nicht, ob darin ein hochschuldidaktisches Unheil liegt, denn wichtiger war uns allen, darl wir wurlten, mit einem Forscher an seinen Fragen teilzuhaben, von i h m fiber seine Arbeit unmittelbar, nicht durch irgend ein didaktisches Medium hindurch, unterrichtet zu werden. Willy Hartner las nicht vor, sondern er sprach sich vor seinen H6rern fiber seine Probleme u n d seine Arbeit an ihnen aus, und in verst~irktem Marl geschah das noch in seinen Seminaren, in denen seine Schiiler ihm im buchst~iblichen Sinn Partner bei der Er6rterung von Problemen wurden. In einer Ansprache anl~irllich seines 75. Geburtstages habe ich Willy Hartner sp~iter gesagt, er habe sich stets Problemen von Rang zugewandt und durch seinen Rat und sein Beispiel seine Schiiler dazu ermuntert, dasselbe zu tun. Er habe u m solche Probleme nie einen Bogen gemacht u n d es v e r s c h m ~ t , auf das Triviale und Bequeme auszuweichen. In der eingehenden Auseinandersetzung mit solchen Problemen habe er die Marlst~ibe gewonnen, die er auch uns zu vermitteln Willy Hartner (1905-1981) 17 g e w u f t habe. In der Tat, ein Lehrer wie Willy Hartner diirfte seine H6rer gegen die Trivialisierung und Ver~iuferlichung wissenschaftlichen Arbeitens ein fiir alle Mal immunisiert haben, die heute an unseren Universit~iten u m sich greift. Willy Hartner hat mir damals in seiner ebenso freundlichen wie bestimmten Art widersprochen und mich darauf hingewiesen, dab er zu seinen Problemen fast immer dadurch gelangt sei, daft er unnachgiebig eine scheinbar am Rande liegende Unstimmigkeit verfolgt, daft er einem nicht in das iibliche Universalbild sich einfiigenden singul~en Fall nachgegangen sei. Er hat Recht gehabt mit dieser Bemerkung. N u r hat er seinen Schiilern stets von solchen am Rande liegenden Unstimmigkeiten und singul~iren F ~ e n berichtet, die ihn zum Mittelpunkt eines Problems von Rang und zu einem neuen Ergebnis von dann allerdings universaler Bedeutung gefiihrt haben. Die Studenten, die nach dem zweiten Weltkrieg an den Universit~ten h6rten, unter ihnen viele Kriegsteilnehmer, wollten nach allem Menschenun- wiirdigen und Sinnlosen, das sie erlebt, endlich einmal etwas Sinnvolles und Menschenwiirdiges tun. Sie waren anspruchsvoll und kritisch und ein Mann wie Willy Hartner war der rechte Lehrer fiir sie. Die Schwierigkeiten der Studieng~ge, die Tiicken der Examina und die diisteren Berufsaussichten konnten sie, nachdem sie einen Weltkrieg erlebt hatten, kaum noch schrecken. Man studierte unter schwierigsten materiellen Verh~iltnissen, doch Konkur- renz und Leistungsdruck waren unbekannt, mindestens fiir die, welche bei Willy Hartner studieren durften. Er verstand es, den Geist des historisch- mathematischen Seminars von Dehn, Epstein, Hellinger und Siegel wieder aufleben zu lassen, weiterzugeben, was seine Lehrer ihm vermittelt hatten. Das Institut hat so, wie ich es kennengelernt habe, zun~ichst unter den schwierigsten Bedingungen und beengten r~iumlichen Verh~lmissen arbeiten miissen. Willy Hartners Mitarbeiterin Hertha von Dechend wurde zun~ichst als Schreibkraft bezahlt. Sie hatte Ethnologie studiert und hat sich wie eine Mutter der Studenten und nicht zuletzt auch meiner angenommen. Ich weir nicht, was ohne ihre Hilfe aus mir geworden w~ire. Das Institut bestand aus einem Zimmer ~ r seinen Direktor und einem grofen Raum fiir die Seminar- veranstaltungen und die Bibliothek. Die Bibliothek ist nach und nach, vor allem durch die unermiidlichen Bemiihungen Hertha von Dechends zu einem einzigartigen Werkzeug der Forschung geworden. In einem Fach, in dem wichtige und unentbehrliche Literatur nur durch Antiquariate zu erhalten ist, bedeutet das eine kaum z u ermessende Arbeit, vor allem dann, wenn im Vergleich mit den geforderten Preisen nur bescheidene Mittel zur Verfi~gung stehen. Noch in einem anderen Punkt schien mir die Frankfurter Bibliothek vorbildtich: Es wurden dort alle Zeitschriftenaufs~itze und Beitr~ige aus Sammelschriften nach Verfassern wie nach behandelten Personen verzettelt, und die Karten in einem Personenkatalog zusammengef~t, mit dem sich ein vorziiglicher Sachkatalog verband, beides das Werk yon Hertha von Dechend. "Ich weir aus eigener Erfahrung, was das bedeutet und habe es bei der von mir aufgebauten Bibliothek nie so weit gebracht. Willy Harmer ist der hilfsbereiteste Mensch gewesen, den ich kennengelernt habe. Sobald er im Institut auftauchte, war er belagert von Besuchern, die 18 Matthias Schramm seinen Rat und seine Hilfe suchten. Sein einzigartiges Wissen war nicht auf seine Wissenschaft beschr~inkt, sondern schlog alle Bereiche menschlichen Lebens ein, und er besag dariiber hinaus, durch seinen Kreis von Freunden in aUer Welt, auch dort Verbindungen, wo man sie kaum vermutet hiitte. Seine Hilfsbereitschaft hat diesen Kreis der ihm zugetanen Freunde noch st~dig erweitern helfen. Es gab nichts, womit man nicht zu ihm kommen konnte und womit man nicht zu ihm kam. Bekannte wie Unbekannte, Ausl~der wie Deutsche sprachen bei ihm vor, und, war einmal kein Besucher bei ihm, so riefen sie bei ihm an. Vor allem empfand er es als seine vornehmste Pflicht, Opfern der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft, so weit wie ihm das iiberhaupt nur m6glich war, zu helfen. Fiir das mit dem Wintersemester 1959/1960 beginnende akademische Jahr wurde Willy Hartner zum Rektor der Frankfurter Universit~it gew~lt. Die vielfachen unmittelbaren und Folgeverpflichtungen, die sein Amt mit sich brachte, liegen ihn kaum noch Zeit zur wissenschaftlichen Arbeit finden. W~ihrend der anschliegenden Jahre 1961 bis 1965 hat er wieder und wieder als Gast an der Harvard University gewirkt, und das nicht zuletzt deshalb, weil er so wenigstens fiir kurze Zeit ein wenig Muge fiir die eigene Arbeit gewinnen konnte. Er brachte es sogar fertig, in dieser Zeit eine Serie von Artikeln fiir die Neuausgabe der Encyclopaedia of Islam zu schreiben: iiber den Algebraiker Abfi K~rnil Shudj~ ' (60.1), den schon e r w ~ n t e n Artikel As.turl~b (fiber das Astrolab in der arabischen Literatur) (60.2), iiber al-Djabr wa-'l-muk.~bala (Algebra) (63.3), al-~awzahar (die Mondknoten) (63.4), Falak (Sph~ire) (63.5), H. abash al-H~sib al-Marwazi (65.I); schliefllich schrieb er einen ausfiihrlichen Artikel "Ilm al-Hay'a (Astronomie) (65.3). Dreimal habe ich seinerzeit mit ihm gemeinsam Arbeiten verfassen diirfen. Durch nichts habe ich so viel gelernt wie durch diese Zusammenarbeit. Willy Hartner hatte immer wieder Beden- ken, bei Punkten, die mir v611ig selbstverstiindlich erschienen waren; und, wie sich dann stets zeigte, hatte er Recht mit seinen Bedenken. In dem Mag, in dem Willy Hartner v o n d e r Last iiuf~erer Verpflichtungen wieder frei wurde, steigerte sich Ausmafl und Umfang seiner wissenschaftli- chen Arbeit. Er hat in den letzen 15 Jahren seines Lebens eine solche Fiille yon Untersuchungen vorgelegt, daft es nicht m6glich ist, hier auf sie im einzelnen einzugehen. Doch gerade in dieser Zeit hat er das Wichtigste geschaffen, so daft wenigstens einige Andeutungen folgen sollen. Schon ankiglich seiner Ausein- andersetzung mit Carl Hentze hatte Willy Hartner darauf hingewiesen, dag bestimmte ikonographische Elemente frfiher chinesischer Bronzen sich auf j~ihrliche Erstaufg~inge bestimmter Sternbilder beziehen miissen. In seiner Untersuchung iiber dem Kampf zwischen L6we und Stier (65.2) hat er fiir die friihesten Kulturen des Zweistromlandes ~ihnliches nachgewiesen und damit Vorstellungen bis ins vierte Jahrtausend v. Chr. Geburt zuriickverfolgen k6nnen, die von dieser Zeit an zum festen Bestand der Astrothesie des vorderen Orients geh6rt haben. Willy Hartner hat dann noch Untersuchungen zur rechnenden Astronomie und Kalenderwissenschaft im vorderen Orient ver6ffentlicht (69.2) (79.1) zu denen er seit Jahren Vorarbeiten ausgefiihrt hatte. Dazu traten weitere Aufs~itze iiber die Astronomie des orientalischen Willy Harmer (1905-1981) 19 Mittelalters und ihren Einfluf~ auf den Westen (65.5), (70.1), (71.1), (74.), (75.3). Zu Willy Hartners 60. Geburtstag ist eine Auswahl seiner Arbeiten erschienen (68.1), aus der er atlerdings all die Beitr~ige ausgeklammert hat, die durch neuere Ergebnisse erg~inzungsbediirftig geworden waren, so die oben erw~ihnten Artikel aus der ersten Auflage der Enzyklopaedie des Islam oder seinen, eine kleine Monographie darstellenden Beitrag zur chinesischen Medizin (41.1). Die dem Band vorangestellte Tabula gratulatoria ist ein eindrucksvotles Dokument fiir die weltweite Wertsch~itzung, deren sich Willy Hartner erfreuen durfte. Im Jahre 1969 brachte Willy Hartner seine grofle Untersuchung iiber die GoldhSrner von Gallehus heraus (69.1). Er setzt dieses einzigartige arch~iologi- sche Zeugnis altnordischer Kultur zum ersten Mal in die astrologische und zahlenmystische Tradition, die v o n d e r Epoche des Hellenismus ihren Ausgang genommen hat und die uns sp~iter in der Welt des orientalischen Mittelalters wiederbegegnet. Die Folge der Figuren des sogenannten runenlo- sen Horns entziffert er als eine Geheimschrift und erkl~irt ihre besondere Form durch zahlenmystische, vom Verfertiger des Horns eingehaltene Regeln. Schliefllich deutet er die ikonographischen Elemente des runenlosen Horns bis in die Einzelheiten als bezogen auf die Sonnenfinsternis vom 16. April des Jahres 413 n. Chr. Seine vorangegangenen Studien zu den pseudoplanetari- schen Mondknoten (38.2) und zur Symbolik des Wade Cup (59.2) erm6glichen ihm auch die Deutung der meisten weiteren ikonographischen Elemente, die auf den H6rnern auftreten. Die Folgerungen, die sich aus dieser Deutung ftir unser Verst~indnis der altnordischen Kultur ergeben, sind so umw~zend, daft sie lebhaften Widerspruch hervorgerufen haben. Willy Hartner hat seine Auffassung demgegeniiber mit guten Grtinden zu verteidigen gewuflt (72.2). Die universit~itspolitischen Ereignisse, die durch die sogenannte Studenten- revolution ausgel6st wurden, haben noch einmal Willy Hartner zu mutiger und entschiedener Stellungnahme gedr~ingt. Seine Erfahrungen, die er mit der Unduldsamkeit nationalsozialistischer Ideologie hatte sammeln miissen, hatten seinen Blick gesch~irft: ,Principiis obsta' hat er den Verantwortlichen und all den Kollegen zugerufen, die umfielen, noch bevor ma~ sie darum gebeten hatte. Er hat in Tages- und anderen Zeitschriften (70.3) in aller Sch~irfe seine Kritik ge~iuflert. Es kiimmerte ihn wenig, daft er als Reaktion~ir abgestempelt wurde, und heute diirfte es manchem d~immern, wie recht er mit seinen Warnungen gehabt hat. Er wuf~te, wovon er sprach, und so manches Unheil w~ire vermieden worden, h~itte man aufmerksamer anf seine Stimme geh6rt. Die wissenschaftliche Welt hat Willy Hartners Leistungen reiche Anerken- nung gezollt. Er wurde im Jahre 1965 zum Vice-Pr6sident der Acad6mie Internationale d'Histoire des Sciences gew~ihlt, deren membre effectif er seit 1958 war. Vom Jahre 1971 an hat er bis zum Jahre 1977 als President der Akademie gewirkt und deren Organ, die Archives Internationales d'Histoire des Sciences, dank der grof~ziigigen finanziellen Hilfe seines Freundes Ernst A. Teves zu einer der ersten Zeitschriften des Fachs gemacht. Willy Hartner wurde im Jahre 1971 die George Sarton Medal verliehen, die h6chste 20 Matthias Schramm Auszeichnung, die sein Fach zu vergeben hat. Von der Sowjetischen Akademie der Wissenschaften wurde er durch Verleihung der Hegel-Medaille geehrt. Im Jahre 1968 wurde er zum korrespondierenden Mitglied der spanischen Academia Real de buenas letras gew~ihlt, im Jahre 1975 zum ausw~irtigen Mitglied der Accademia Nazionale dei Lincei. Schlief~lich nahm im Jahre 1980 die k6nigliche D~inische Akademie Willy Hartner in ihre Reihen auf. Seit 1935 war er Mitglied der Royal Astronomical Society gewesen u n d e r hat sich dann sehr darfiber gefreut, daft diese ruhm- und traditionsreiche K/Srperschaft ihn im Jahre 1965 zum Associate gew/ihlt hat. Im Jahre 1975 wurde er Ritter der Ehrenlegion. Daft Willy Hartner in der Welt der Wissenschaft so weithin Anerkennung gefunden hat, ist um so erstaunlicher, als er allen in dieser Wek sich immer st~irker verbreitenden Bestrebungen zu einem gleich- und stromlinienfSrmigen Internationalismus ~iuf~erst skeptisch gegenfiber stand, ja entschieden gegen sie Front machte. Gerade durch seine Forschungen hatte Willy Hartner die Einsicht gewonnen, daf~ nur die Wechselwirkungen und der Wetteifer kultureUer Traditionen, die ihre Eigenst~digkeit zu wahren wissen, zu fruchtbarer Weiterentwicklung aller beteiligten Kr~ifte ffihrt; und niemand, der aufmerksam seine Untersuchungen liest, wird sich seinerseits dieser durch ihn gewonnenen Einsicht verschlieflen k6nnen. Willy Hartners Arbeiten kreisen stets um Kulturfibernahme und -austausch. Sie ffihren den Leser anhand der in ihnen ausgearbeiteten Fallstudien zu einer weiteren Einsicht. Ihre Bedeutung und ihre Folgen sind kaum abzusehen. Die Auseinandersetzung mit mathematischen und naturwissenschaftlichen Proble- men, so zeigen die Studien Willy Hartners an immer wieder neuen Beispielen, scheint zu dem Wenigen zu geh6ren, was zu allen Zeiten Menschen der unterschiedlichsten kulturellen Traditionen miteinander verbunden hat. Spra- chen, Religionen, Recht und Sitte: sie trennen ebenso stark die Gruppen, wie sie deren Mitglieder untereinander zusammenschlieflen m6gen. Demgegen- fiber dringen die Errungenschaften der Mathematik und Naturwissenschaft durch alle Landes- und Sprachgrenzen hindurch vorw~J'ts, sie wirken tiber die Schranken unterschiedlicher religi6ser Uberzeugungen hinweg. Ideologien verm6gen ihr universales Fortschreiten nicht auf Dauer zu hemmen. Es scheint nur noch einen weiteren Bereich zu geben, der in ~ihnlicher Weise universal fiber alle Besonderheiten hinweg seine Wirkung entfaltet: die Technik. Wie die Technik, so geh6ren Mathematik und Naturwissenschaft zu dem Wenigen, was die Menschheit zu einer Einheit verbindet und was diesen oft und gem beschworenen Begriff mit einem gewissen Inhatt fiilk. Andere Wissenschaften sind dazu nur bedingt in der Lage; vor aUem gilt das ffir all die geistes- und sozialwissenschaftlichen Disziplinen, die auf der Grundlage kultureller Beson- derheiten aufbauen, und ~nlich steht es mit der Rechtswissenschaft. Die Geschichte der Naturwissenschaften fesselt den, der sich ihr zuwendet, nicht zuletzt durch ihre besondere Wirkung, die sie auf die Menschheit tiberhaupt ausiibt und die gegenw~irtig, durch die Verbindung der Technik mit der Naturwissenschaft, so wie sie in industrieUen Maflst~iben im vorigen Jahrhun- Willy Hartner (1905-1981) 21 dert zu einer sich iiberstfirzenden und weltweit sich ausbreitenden Entwick- lung geffihrt hat, unser aller Schicksal bestimmt. Die Gefahren, abet auch die M6glichkeiten, welche dieser besondere Zug der Geschichte der Naturwissenschaft mit sich fiihrt, hat Willy Hartner in aller Sch~irfe gesehen. Er hat darin die Verpflichtung erblickt, alles zu tun, was jenen Gefahren wehrt und diese M6glichkeiten z u m Heil der Menschheit f6rdert. Nicht nur war seine wissenschaftliche Arbeit ein Dienst an dieser Sache; sie verband sich mit seiner Person zu einer bruchlosen Einheit, u n d e r hat seinen Freunden u n d Schiilern wahrhaft die Uberzeugungen vorgelebt, die er vertrat. Er fiihlte die Verpflichtung, stets den h6chsten Anforderungen u n d Magst~iben zu geniigen in ungew6hnlicher St~irke. Er fibre Selbstbeherrschung in einem Ausmag, wie es mir sonst bei niemandem begegnet ist, und dabei stand hinter dieser Selbstbeherrschung eine jedes Mag fibersteigende Leidenschaft, mit der er alles Gemeine verabscheute. Daft seine Kollegen ihn immer wieder mit Aufgaben der Selbstverwaltung betraut haben, ist nur zu verst~indlich. Mit ruhiger Sachlichkeit hat er die schwierigsten Verhandlungen zu einem guten Ende geffihrt; er verstand es, mit einem Scherzwort im rechten Augenblick l ~ m e n d e r Verkrampfung entgegen- zuwirken und den Beteiligten fiber den toten P u n k t hinwegzuhelfen. Seine Klugheit widersetzte sich allen Winkelzfigen und riet stets z u m gradesten Weg. So hat er auch seinem Land aufrichtig u n d aufrecht gedient. Er hat mich einmal auf die Gespriiche des Confucius hingewiesen, den man gefragt hatte, wie man dem Machthaber diene und der darauf antwortete: ,,Ihn nicht betrfigen u n d ihm widerstehen."10 Seine Haltung hat leider n i c h t d e n L o h n gefunden, den fie verdient h~itte. Die Jahre seiner Emeritierung waren davort fiberschattet, dag man die Wiederbesetzung seiner Stelle vertagte. Er hat es als seine Pflicht betrachtet, neben seiner Forschungsarbeit weiter z u lehren u n d noch zwei Tage vor seinem Tod die letzte Vorlesung gehalten. So hat er, begfinstigt y o n einem Schicksal, das seine Schaffenskraft sich mit dem Alter noch steigern liefl, bis z u m letzten Augenblick gewirkt, sich oft und g e m mit allen ihm Nahestehen- den in seinem gastlichen H e i m in Bad H o m b u r g zusammenfindend. Die Musik hatte ihn mit neuer Macht in ihren Bann gezogen, er hatte seine Bratsche hervorgeholt und begonnen, seine Meisterschaft fiber das sch6ne Instrument von neuem zu entfalten. Da rig ihn am 16. Mai 1981 ein Herzversagen mitten aus seinem Schaffen. Mit ihm ist eine Epoche des Fachs zu Ende gegangen, das nicht zuletzt durch sein Wirken zu einer selbst~indigen Disziplin geworden war. Das weitere Schicksal des von ihm Geschaffenen wird davon abh~ingen, wie welt wir Kraft und Willen besitzen, seinen R~iume u n d Zeiten fiberspannenden Geist lebendig zu halten.* Adresse des Autors: Prof. Dr. Matthias Schramm, K6stlinstr. 6, D-7400 Tiibingen ~o Im 14. Buch der Gespr~iche; siehe, die Obersetzung von Richard Wilhelm, Kung-Futse, Gespfiiche (Lun yii), ]ena 1914, p. 160. * Fiir die Bibliographie der Schriften von Willy Harmer s. u. SS. 174-179.