Moushira SUELEM ROMANTISCHE TOPOI IN CHRISTIAN KRACHTS ROMAN „IMPERIUM“1 These und Vorgehensweise Christian Krachts Roman "Imperium" erregte gleich nach seinem Erscheinen im Jahr 2012 großes Aufsehen in Deutschland. Von einigen Kritikern, insbesondere von Georg Diez, wurde er scharf abgelehnt und als demokratiefeindliches Machwerk gebrandmarkt, das von seinem Autor in ein pseudo-romantisches Gewand gehüllt worden sei. Ich möchte untersuchen, ob man an diesen Vorwurf der „Pseudo- Romantik“ festhalten sollte oder sich Mittel finden lassen, ihn zu destruieren. Dabei gehe ich von der These aus, dass es sich tatsächlich um ein romantisches bzw. neu-romantisches Werk handelt. Um die These zu stützen werde ich meine Aufmerksamkeit auf einen Topos richten, den ich für aussagekräftig halte: die Kindheit. Ich werde untersuchen, ob in Krachts Roman "Imperium" von Kindern die Rede ist, und wenn ja, wie sie gezeichnet und dargestellt werden. Auf diese Weise hoffe ich genug Material zu Tage zu fördern, um die gestellte Frage beantworten zu können. Biographisches Christian Kracht wurde am 29. Dezember 1966 in Saanen im Kanton Bern in der Schweiz geboren. Sein Vater war Verlagsmanager und viele Jahre Generalbevollmächtigter des Axel Springer-Konzerns. Christian Kracht wuchs im Berner Oberland auf. Mit elf Jahren verließ er die Schweiz, "verlor die Mundart und auch das Gefühl hier (in der Schweiz) ganz daheim zu sein." (Siehe Interview mit der Badischen Zeitung vom 04.08.2014) 1 Ich möchte hiermit kurz darauf hinweisen, dass dieser Artikel als Ergebnis meines durch Alexander von Humboldt-Stiftung gewährten Forschungsaufenthalts im Sommer 2018 zustande gekommen ist. 356 Moushira SUELEM Von da an wächst er in den USA auf, in Kanada, Deutschland und Südfrankreich. Er besuchte verschiedene internationale Internate, darunter die Elite-Schule Schloss-Salem und die Lakefield College-School in Lakefield, Ontario. Nach dem College-Abschluss 1989 am Sarah Lawrence College in Bronxville, New York, arbeitete er zunächst als Volontär und später als Redakteur beim deutschen Lifestyle-Magazin "Tempo" in Hamburg. Die Zeitungsmacher orientierten sich an den Zeitgeistmagazinen „twen“, „New York Magazine“, „Vanity Fair“ und „Actuel“. Mitte der 1990er Jahre wurde Christian Kracht Indien-Korrespondent beim "Spiegel" in Neu-Delhi (als Nachfolger von Tiziano Teranzi). Zudem veröffentlichte er Reiseberichte (vor allem in der "Welt am Sonntag"), arbeitete als Kolumnist für die „FAZ“, und gab, gemeinsam mit dem Schriftsteller Eckhart Nickel, in Kathmandu die Zeitschrift "Der Freund" heraus. Mehrere Jahre lebte er auch in der ehemaligen jugoslawischen Botschaft in Bangkok. Christian Kracht lebt mit seiner Frau, der Regisseurin Frauke Finsterwalder, in Italien und Afrika. Im Mai 2018 hielt Kracht eine Reihe von Poetikvorlesungen an der Goethe Universität Frankfurt. Romane 1995 erschien sein erster Roman »Faserland«, der kontroverse Diskussionen auslöste. Es ist die Geschichte der Irrfahrt eines jungen Ästheten durch die Warenwelt Deutschlands. „Faserland“ wurde als Schlüsselwerk der deutschsprachigen Pop-Literatur bezeichnet und in Verbindung gebracht mit den Romanen "Unter Null" und "Einfach unwiderstehlich" von Bret Easton Ellis. Das ist aber eine oberflächliche Zuordnung. Kracht selber sagte, dass er mit der Bezeichnung Pop-Literatur nichts anfangen könne. „Ich hab keine Ahnung, was das sein soll: Popliteratur." (Interview, zusammen mit Benjamin von Stuckrad-Barre, in der Zeit, „Wir tragen Größe 46“, Nr. 37/1999) Er betrachtet sich eher als Autor eines modernen Bildungsromans. Die Anspielungen auf Thomas Mann, Goethe und Klopstock scheinen ihm Recht zu geben. 357 ROMANTISCHE TOPOI IN CHRISTIAN KRACHTS ROMAN „IMPERIUM“ Im September 2001 erschien der 2. Roman "1979". Hier entwirft er eine ganz eigene Welt von seltsamen Wesen, die sich im Teheran der Revolutionszeit bewegen und in einem chinesischen Arbeitslager enden. Der Roman mit seinen kantigen, knappen Sätzen erinnert bisweilen an Friedrich Glauser, Ernst Jünger und Peter Handke. Kracht erhielt für ihn internationale Anerkennung. 2008 folgte der 3. Roman "Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten". Hier entwirft er ein Schauer-Panorama. Er schildert eine fiktive Schweiz, in der Lenin 1917 eine Revolution durchgeführt hat. Seitdem ist die Schweiz eine kommunistische Diktatur: die SSR, die Schweizer Sowjet Republik. Die Jahreszeiten sind abgeschafft, der Erzähler stapft durch die Ruinenlandschaft von Neu-Bern, dem Labyrinth gewordenen Ebenbild des SSR-Systems. «Ich bin an diesem Ort. Verloren», sagt die Stimme des Dichters. Ähnlich wie in „Faserland“ geht es um eine Reise ans Ende des Ich. Die Romanfigur ist von Auslösungssehnsucht getrieben. Sie leidet an der gegenwärtigen Welt und fühlt sich von deren Hässlichkeit beleidigt. Das ist kein seltener Topos in der literarischen Moderne und Postmoderne. Man findet ihn zum Beispiel in Brett Easton Ellis „American Psycho“. Krachts Roman wurde im September 2009 mit dem „Phantastik-Preis der Stadt Wetzlar“ ausgezeichnet. 2012 folgte der 4. Roman "Imperium", der großes Aufsehen erregte: „Die deutsche Literatur hat wieder einmal ein veritables event, einen Skandal vielleicht.“ (Siehe: Manfred Clemenz: Literatur und „demokratischer Diskurs“ in L.I.S.A.- Das wissenschaftliche Portal der Gerda Henkel Stiftung, vom 29. 01.2012) Von einigen wurde er scharf abgelehnt, so zum Beispiel von dem Spiegel-Kritiker Georg Diez, der schrieb, Kracht bewege sich „sehr bewusst außerhalb des demokratischen Diskurses“. An seinem Roman „Imperium“ „könne man sehen, wie antimodernes, demokratie-feindliches, totalitäres Denken seinen Weg findet hinein in den Mainstream.“ (Siehe: Georg Diez: Die Methode Kracht in: Der SPIEGEL 7/2012 - 13. Februar 2012) 358 Moushira SUELEM Von anderen wurde er enthusiastisch begrüßt, so zum Beispiel von dem Kritiker der Rheinischen Post, Lothar Schröder: „Man sollte, nein, man muss Kracht … feiern“. Den Vorwurf von Diez nannte er „irrwitzig, intelektuell beschämend und ungerecht“. (Siehe: Lothar Schröder in Rheinische Post vom 16.02.2012). Der Germanist Martin Lüdke nannte „Imperium“ einen „wirklich wunderbaren Roman“ (Siehe: Martin Lüdke: „Faustkultur.de vom 15.02.2012). Die Kritikerin der „FAZ“, Felicitas von Lovenberg, sprach von dem „Versuch, eine literarische Neuerscheinung durch eine ganz und gar unliterarische Lesart zu vernichten.“ (Siehe: Felicitas von Lovenberg: Kein Skandal um Christian Kracht, FAZ, 15. Februar 2012). Der Soziologe Manfred Clemenz konstatiert bei Diez' Kritik ein falsches Literaturverständnis. (Siehe: Manfred Clemenz: Literatur und „demokratischer Diskurs“ in L.I.S.A.- Das wissenschaftliche Portal der Gerda Henkel Stiftung, vom 29. 01.2012) Auch die Schriftstellerin Elfriede Jelinek und die Schriftsteller Daniel Kehlmann und Uwe Timm verteidigten Krachts Roman gegen die Vorwürfe von Diez. Im November 2012 wurde der Roman mit dem Wilhelm-Raabe- Literaturpreis der Stadt Braunschweig ausgezeichnet. In der Jury-Begründung hieß es, die Geschichte der deutschen Kolonien zu Kaiserzeiten sei "noch nie so farbig schillernd, so böse komisch, phantastisch realistisch, pathologisch weltbeglückend, so schräg verzerrt" wie von Kracht erzählt worden. Krachts Werke wurden in zahlreiche Sprachen übersetzt. Imperium „Imperium“ ist eine deutsche Südseeballade. Held des Romans ist der Nürnberger August Engelhardt, der zu Beginn des 20. Jahrhunderts, mit einer kleinen Erbschaft ausgestattet, dem "Sirenenruf des Paradieses" (S. 20) folgend, sich in die Südsee einschiffte, um in Papua-Neuguinea, das damals vorübergehend Deutsch-Neuguinea hieß, ein Fleckchen Land zu kaufen, wo er ungestört der Sonne, dem Freikörperkult und der Kokosnuss huldigen konnte. 359 ROMANTISCHE TOPOI IN CHRISTIAN KRACHTS ROMAN „IMPERIUM“ August Engelhardt ist eine zarte Seele, man könnte ihn einen Ritter der Kokosnuss nennen oder einen gnostischen Sonnenanbeter. Er ist eine derart kuriose Figur, dass man ihn erfinden müsste, wenn es ihn nicht tatsächlich gegeben hätte. 2011 erschien mit Marc Buhls "Das Paradies des August Engelhardt" bereits ein erster, vielfach gelobter Roman über den Nudisten und Kokovoren, der 1902 auf der Insel Kabakon unter Palmen seinen Sonnenorden ausrief. Falls Kracht sich über diesen Nebenbuhler geärgert haben sollte, so ist davon nichts zu spüren. Im Gegenteil: So entspannt, so lustvoll wie in "Imperium" schrieb der Autor noch nie. Es liegt eine gewisse Heiterkeit über diesem Buch, das eine farbenprächtige, mitunter tragische Groteske von Verblendung, Fanatismus, Einsamkeit und unfreiwilligem Deutschsein in der Fremde erzählt. Die Heiterkeit speist sich aus der demonstrativen literarischen Freiheit, die Kracht sich von biographischen Fakten nimmt und aus der historischen Distanz eines allwissenden Erzählers, der mit dem Exoten Engelhardt den Irrsinn der ganzen deutschen Südsee-Episode und der ihr nachfolgenden Tragödie in den Blick nehmen will, wie er uns mitteilt: "So wird nun stellvertretend die Geschichte nur eines Deutschen erzählt werden, eines Romantikers, der wie so viele dieser Spezies verhinderter Künstler war, und wenn dabei manchmal Parallelen zu einem späteren deutschen Romantiker und Vegetarier ins Bewusstsein dringen, der vielleicht lieber bei seiner Staffelei geblieben wäre, so ist dies durchaus beabsichtigt und sinnigerweise, Verzeihung, in nuce auch kohärent." (S. 18, 19) Dabei ergreift Krachts Robinsonade Partei für den Paradiesvogel Engelhardt, der seinem Jünger, dem 13-jährigen Eingeborenen Makeli, Romane vorliest (vor allem Charles Dickens "Große Erwartungen" S. 75), viel Zeit damit verbringt, seinen Fußnägeln beim Wachsen zuzusehen und unter der sengenden Sonne und dem Einfluss der Kokosnussdiät immer mehr regrediert. Schließlich lutscht er wieder am Daumen, bis ihm dieser aufgrund einer Leprainfektion abfällt und in einer Kokos-schale als Leckerbissen aufgehoben wird. Doch nicht Verrohung oder Überleben um jeden Preis ist Krachts Thema, sondern Vereinsamung und Entfremdung. Schön wird es nicht. Wenn August Engelhardt auf seiner Reise nicht verhöhnt, verachtet oder verprügelt wird, dann wird er bestohlen, betrogen und belogen. Kaum in seinem Paradies angekommen, wird er übers Ohr gehauen, 360 Moushira SUELEM und bald geht es mit ihm bergab. Dann kommt der Erste Weltkrieg. Die Menschen, denen Engelhardt in seinem Leben begegnet war, ertrinken auf hoher See oder werden standrechtlich erschossen. Nach Kriegsende finden US-Marines den uralten Engelhardt in einer Erdhöhle. Später macht Hollywood daraus einen Film, der zeigt, wie die Vorhut des siegreichen Imperiums einen verrückten Deutschen findet. So schnurrt alles in einer Endlosschleife zusammen. Der Roman schließt mit der ersten Szene des Films, der wiederum die erste Szene des Buches wiederholt: Die Schiffsglocke läutet zu Mittag, ein malayischer Boy schreitet sanftmütig und leise das Oberdeck ab, um die Passagiere mit behutsamen Schulterdruck aufzuwecken, die gleich nach dem üppigen Frühstück eingeschlafen waren. (S. 11 und S. 242) Man könnte den Roman auch einen Reigen nennen. Bedeutsam an dem Roman "Imperium" ist auch das Atmosphärische: Deutsches 19. Jahrhundert (Büchners "Lenz", Kellers "Grüner Heinrich") gemischt mit Mark Twain ("Naked people have little or no influence on society" (S. 7), Henry David Thoreau, Alfred Tennyson und Charles Dickens. Und die Art und Weise wie Kracht erzählt ist seinem großen Vorbild Erich Kästner nachempfunden: "August Engelhardt wird nun weit im Norden wiedergesehen, Berlinwärts reisend, er hat sich von Gustaf Nagel in inniger Verbundenheit am Münchner Hauptbahnhof getrennt, beide haben jeweils die Unterarme des Gegenübers ergriffen." (S. 83) August Engelhardt ist, allen Widerständen zum Trotz, auf seiner Insel ein Glückskind, zumindest für kurze Zeit. Mit seiner Kleidung streifte er alle gesellschaftlichen Ängste ab, und durch Selbstgenügsamkeit erlangte er Freiheit. Anfangs bekam er sein neues Leben ganz gut in den Griff: "Seine Bücherkisten, die vollzählig und von den feuchten Widrigkeiten der zahlreichen Überfahrten unbeschadet geblieben waren, wurden von den Segelkanus an den Strand gebracht, endlich ausgepackt und seine ihm hochheiligen Bücher zuerst längs den Wänden seines Häuschens gestapelt und anschließend, nach und nach, einem genauen alphanumerischen System folgend, in eigens dafür konstruierte modern anmutende Regale eingeordnet. Engelhardt, dem die Bewohner Kabakons also nachsagten, er besitze das, was sie mana nannten (und das wir Europäer mitunter einfach als masel kennen) war für kurze Zeit ganz simpel und einfach glücklich." (S. 122) 361 ROMANTISCHE TOPOI IN CHRISTIAN KRACHTS ROMAN „IMPERIUM“ Wer immer glücklich sein möchte, muss sich oft verändern, heißt es bei Konfuzius. August Engelhardt ist aber ein Mensch, der sich nicht mehr verändern möchte, weil er glaubt, in seinem neuen Leben eine feste Form gefunden zu haben. Und so bleibt es nicht aus, und man kann es als Leser beobachten, dass es mit seinem Glück und seinem Leben abwärts geht. In kästnerischer Schreibmanier heißt es bei Christian Kracht: "Die ersten dunklen Wolken jedoch waren schon im Anmarsch, und zwar zügig, wie wir nun sehen werden." (S. 122) Zeitsprünge Indem Kracht ständig vor- und zurückspult, zeigt er uns Engelhardt, diesen deutschen Ur-Romantiker, wie er sich etwa an „jenem unendlich melancholischen, einhundert Kilometer langen, sonnenbeschienenen Dünenstrand“, der Kurischen Nehrung, noch etwas verlegen seiner Kleidung entledigt, „sich fragend, ob vielleicht hier des Deutschen Seele herstamme“. (S. 84) Beinahe begegnet er dem Sommerfrischlerpaar Thomas und Katia Mann. Der „Simplicissimus“-Redakteur wird am nächsten Tag Anzeige gegen den vagabundierenden Nudisten erstatten. Zuvor ist er beinahe Hermann Hesse begegnet. Das war im Boboli- Garten zu Florenz, wo er sich „zur Rast auf einer steinernen Bank niedergelassen“ hatte, „wohlig die Füße von sich gestreckt“. (S. 62) Engelhardt wirkt wie eine ätherische Erscheinung, in Europa noch stärker als auf dem Schiff (der „Prinz Waldemar“) oder an seinem Zielort Herbertshöhe in Neupommern und seinem Sonnenreich, der Insel Kabakon. Romantik Nun war schon ein paarmal von „Romantik“ die Rede. August Engelhardt wurde als „Ur-Romantiker“ bezeichnet. Seine Suche nach dem Glück erinnert tatsächlich an die Suche der Romantiker nach der blauen Blume, die für Sehnsucht und Liebe und für das metaphysische Streben nach dem Unendlichen steht. 362 Moushira SUELEM Überhaupt ist die Romantik durch das Motiv des „Suchens“ gekennzeichnet. Die „Suchenden“ unterscheiden sich von den Bildungsphilistern, die vorgeben, das Wesentliche bereits zu besitzen. Wenn Kritiker dem Roman von Christian Kracht die romantischen Bezüge absprechen, tun sie so, als gäbe es bei ihm kein Motiv des „Suchens“. Sie unterstellen ihm, nichts zu suchen, sondern etwas zu haben, nämlich eine antidemokratische Ideologie. Der Kritiker Georg Diez hat romantischen Bezüge im Roman von Kracht am lautesten in Abrede gestellt .Er nennt die Aussteiger-Saga im „Imperium“ pseudo-romantisch. Er glaubt nicht, dass Christian Kracht nach der blauen Blume oder überhaupt nach irgendetwas sucht. Vielmehr er davon, dass Kracht in einem „arischen Arkadien“ gelandet sei und behauptet, das „Imperium“ sei von „einer rassistischen Weltsicht“ (S. 102) durchdrungen. Die romantischen Bezüge dienten nur dazu, „den Kern seines Schreibens und Denkens zu kaschieren“. (Diez S. 102) Diez wirft Kracht vor, ein antimoderner Ästhetizist zu sein, den man in eine Reihe stellen müsse mit Joris-Karl Huysmans, Ezra Pound und Ferdinand Celine. (S. 102) Untersuchungsziel und -methode Ich möchte untersuchen, ob es in Krachts Roman „Imperium“ romantische Bezüge gibt, die sich nicht einfach als pseudo-romantisch abqualifizieren lassen. Dabei werde ich mich nicht auf den Plot oder das Hauptgeschehen des Romans konzentrieren, sondern auf Nebenumstände, die von den Rezensenten und Kritikern unbeachtet blieben. Ein sicheres Kennzeichen für Romantik ist die Betrachtung und Einstufung von Kindern. In vorromantischen Zeiten, vom Altertum bis weit ins 18. Jahrhundert hinein, hatte man eine negative Auffassung von Kindern. Im Sinne von Aristoteles betrachtete man sie als defizitäre, vernunftlose Wesen. (Siehe: Susanne Leiste: Studien zur Darstellung des Kindes und der bildenden Kunst des ausgehenden Mittelalters und der frühen Neuzeit, Dissertation, Erlangen 1985) Die Romantiker betrachteten die Kindheit nicht länger als unterentwickelte Vorstufe des Erwachsenseins, sondern begriffen sie als etwas 363 ROMANTISCHE TOPOI IN CHRISTIAN KRACHTS ROMAN „IMPERIUM“ Spezifisches und Eigenes. In der Romantik entsteht eine neue mystische Auffassung vom Kind als einem „heiligen“ Wesen, das mit dem Göttlichen noch unmittelbar verbunden ist. Das Innere des Menschen wird als göttlicher Kern gedeutet. Von hier ausgehend wird angenommen, daß die Kinder eine höhere und vollkommenere Weltsicht haben. Erwachsene sollten zum kindlichen Menschen aufschauen. Die Frage nach der Erziehung erübrigt sich an dieser Stelle, denn „wie könnte er, der Erwachsene, sich da eine eingreifende Erziehung anmaßen?“ Im Gegenteil, hier versteht sich der Erwachsene als der Empfangende, dient ihm das Kind doch als Mittler zum Unendlichen. Bei aller Verehrung der Kindheit geht es den Romantikern aber nicht um das reale Kind an sich, sondern um eine Annäherung an eine „Zweite Kindheit“ als höchste Daseinsform. In diesem endgültigen Stadium der Menschheitsgeschichte soll auch der Erwachsene wieder unmittelbar mit dem Unendlichen verbunden sein. (Zitate siehe: Hans-Heino Ewers: Romantik. Vorgeschichte und Voraussetzungen. Stuttgart 1990, S. 99-115) Diese Sichtweise taucht auch an vielen Stellen von Christian Krachts Roman „Imperium“ auf. Auch bei ihm gerät die Kindheit zum Gegenentwurf der Welt. Kindheit wird– und das ist ein klares Kennzeichen für Romantik – als höhere Daseinsform verstanden, der die Erwachsenen nachstreben sollten. Beispiele der Darstellung von Kindern im Roman „Imperium“ Ich möchte nun zeigen, wie Christian Kracht in seinem Roman "Imperium" Kinder darstellt und wie ihm die Kindheit zum Gegenentwurf der Welt wird. Hier einige Stellen aus dem Roman: 1. "Manchmal, so war es ihm als Kind erschienen, existierte noch eine Welt neben dieser Welt, in der sich alles auf wunderliche, aber durchaus nachvollziehbare und stringente Weise anders entwickelt hatte..." (S. 122) Hier wird gesagt, dass es neben der Welt der Erwachsenen, die durch Rationalismus und Verstandeskälte kennzeichnet ist, noch eine Welt der Kinder gibt, in der sich alles auf wunderliche Weise entwickelt. 364 Moushira SUELEM Eine Rückbesinnung auf die Kindheit wird angemahnt, und man fühlt sich an eine Textstelle aus Johann Wolfgang Goethes „Die Leiden des jungen Werthers“ erinnert, in der es heißt: „Ich gestehe Dir gerne, denn ich weiß, was Du mir hierauf sagen möchtest, daß diejenigen die Glücklichsten sind, die gleich den Kindern in den Tag hineinleben…“ (Siehe: Johann Wolfgang Goethe: „Die Leiden des jungen Werthers“ von 1774, S. 16 (22. Mai)) 2. „Ab und zu lief er hinab zum Ufer und schöpfte sich beidhändig Meerwasser auf die brennenden Schultern. Dann liefen kleine Kinder mit, die nackend und kreischend und feixend sich vor ihm in die Fluten warfen und Engelhardt lachte mit ihnen.“ (S. 68) Hier wird dargestellt, dass Kinder unschuldige, naturverbundene Wesen sind die sich im Spiel vergnügen. August Engelhardt fühlt sich ihnen verwandt. Es gelingt ihm, mit den Kindern zu lachen. 3. „Deutlich sah er die dahintickende Uhr, seine inzwischen konstruierte Bastliege und das darüber mit einem Kokostau befestigte Moskitonetz, schon fiel er in die Zeit hinab, bis sich vor seinen Augen, erst schemenhaft, dann ganz und gar deutlich scharf gestochen, nicht nur die kanariengelb und violett gestrichenen Wände seiner Kinderstube manifestierten, sondern die wohlriechende Erscheinung seiner Mutter, die sich mit besorgt herausgeschobener Zungenspitze über ihn beugte und seine heiße Stirn mit einem geeisten Baumwolllappen bearbeitete. Seine Mutter war nicht nur zu sehen, sondern auch tatsächlich zu empfinden, als sei sie nicht längst tot, sondern im höchsten Maße präsent und unendlich – die grenzenlose Liebe, die er für sie fühlte, war in der Tat eine kosmische, eine göttliche Wahrnehmung …“ (S. 96) Hier taucht eine Erinnerung der Romanfigur August Engelhardt an die eigene Kindheit auf. Er erinnert sich, von der Mutter umsorgt, geschützt und geliebt worden zu sein. Durch die Erinnerung wird ihm die Mutter, die längst gestorben ist, wieder präsent. Die Zeit ist wie aufgehoben. Engelhardt fühlt sich in die Kindheit zurückversetzt. Es ist eine kosmische, eine göttliche Wahrnehmung. Zugleich fühlt man sich an das Motiv der „guten Mutter“ aus den „Kinder- und Hausmärchen“ erinnert, die von den Gebrüdern Grimm in der Epoche der Romantik gesammelt und publiziert wurden. 365 ROMANTISCHE TOPOI IN CHRISTIAN KRACHTS ROMAN „IMPERIUM“ 4. Auf Seite 115 des Romans erfährt man, dass August Engelhardt sich „bereits in der Kindheit“ … „sorgsam aufgebaute Schutzmauern den Menschen gegenüber“ zugelegte (S. 115). Dennoch wurde er von brutalen Erwachsenen aus seinem Schutzbezirk vertrieben: Die Marotte am Daumen zu lutschen, war ihm (Engelhardt) „unter schweren Prügeln ausgetrieben worden“ … und er hatte sie (auf seiner Insel Kabakon) für sich selbst wiederentdeckt, als probates Hilfsmittel einer nur ihm bekannten Meditationstechnik. In einem Hohlraum des Selbst versinkend, erlaubte ihm das Saugen am Daumen, die Umwelt beinahe lückenlos auszublenden, ja, sich derart in sich selbst zurückzuziehen, dass jegliche an den Gestaden des Bewusstseins anbrandende Irritation von ihm abgehalten wurde wie eine gefräßige Motte durch ein besonders fein gewebtes Mückennetz. „ (S. 133) Hier wird dargestellt, dass Kinder ein natürliches Mittel finden, sich selbst zu beruhigen: sie saugen am Daumen. August Engelhardt hat auf seiner einsamen Insel Kabakon dieses Mittel aus Kindertagen wieder neu für sich entdeckt. Es wird ihm zur Meditationstechnik. In einem Hohlraum seines Selbst versinkend kann er sich vorübergehend vor der Welt schützen, die ihm nachstellt wie eine gefräßige Motte. Auch ins eigene Bewusstsein haben sich Gegenstände der Welt eingenistet, die ihn bedrücken und ängstigen. Und auch diese Bewusstseins-Gegenstände werden durch die Meditationstechnik aufgelöst. 5. „Pandora springt von Bord und läuft schnurstracks barfuß Richtung Gouverneursresidenz… auf halben Wege bleibt sie stehen und bückt sich um Blumen zu pflücken, und einige Insulanerkinder kommen schüchtern hinzu. Aus der Ferne sieht es aus, als würden sie innig miteinander spielen; Pandora vergisst darüber, weswegen sie an Land gegangen ist.“ (S. 201) An dieser Stelle wird ausgedrückt, dass Kinder nicht an den Dingen anhaften. Pandora, ein junges, zwölf oder vierzehnjähriges Mädchen das sich in Sydney als blinder Passagier an Bord geschlichen hat, hat in Herbertshöhe 366 Moushira SUELEM das Schiff von Kapitän Slütter verlassen, um zur Gouverneursresidenz zu laufen. Sie geht aber nicht geradewegs oder linear auf das Ziel zu wie ein Erwachsener. Zuerst wird sie von den Blumen abgelenkt, die sie zu pflücken beginnt, dann von den Insulanerkindern, mit denen sie in ein Spiel geraten wird. 6. „Im Vorbeigehen lächelt er (Kapitän Slütter) Pandora an, die sich zu den eingeborenen Kindern auf die Wiese gesetzt hat, und als sie nicht zurücklächelt, ja noch nicht einmal zu ihm aufschaut, schließt er die Augen und geht weiter.“ (S. 202) Hier wird dargestellt, dass sich Pandora auch an Menschen nicht fest anhaftet. Kapitän Slütter hatte viel für sie getan, hatte sie väterlich beschützt. Dennoch fühlt sich Pandora nicht gezwungen, sich immer auf ihren Wohltäter zu fixieren. Nach Art der Kinder kommt sie schnell mit anderen Kindern in Kontakt, wendet sich ihnen zu, spielt mit ihnen und löst sich spielend von Kapitän Slütter. Kapitäin Slütter, weiß darum. Er weiß, dass er mit den Mitteln der Erwachsenen das Kind nicht dauerhaft für sich einnehmen kann. Er schließt die Augen und geht weiter. In der Phantasie wird er Pandora sein eigen nennen können, in der Wirklichkeit nicht. Diese Passage mündet in eine philosophische Betrachtung über Zeit und Gegenwart: „Die vorherrschende Ansicht, die Zeit sei ein unaufhaltsamer Strom, in dem alles seinen präzisen Anfang habe und seinen klar definierten Verlauf, hat sich auch in Slütters Denken festgesetzt; dabei ist es, wie ihm in manchen luziden Momenten gewahr wird, eher so, dass das Ende sehr wohl feststeht, nicht aber das immerwährende Präsens, welches einen dorthin zu führen weiß. Das perfide, unfassbare Jetzt mäandert … aus allen Ecken und Enden und fließt unkontrollierbar wie ein Gas in sämtliche Richtungen des Daseins, dabei die unwiderrufliche Einzigartigkeit jedes seiner Augenblicke außer Acht lassend…“ (S. 203) Kinder wissen um die unwiderrufliche Einzigartigkeit jedes Augenblicks. Und ihr Spiel ist nichts anderes als die Hingabe an diesen Augenblick. Und von Augenblick zu Augenblick erfahren sie „das immerwährende Präsens“, von dem sich die Erwachsenen ausgeschlossen haben. 367 ROMANTISCHE TOPOI IN CHRISTIAN KRACHTS ROMAN „IMPERIUM“ 7. „Das Mädchen Pandora verhält sich natürlich nicht so, wie Slütter es gerne gehabt hätte, als hätte er sie einfrieren können in die ewig andauernde Gegenwart, unveränderlich bis ans Ende aller Zeiten…“ (S. 226) Hier klingt an, dass die Erwachsenen aus dem „immerwährenden Präsens“ herausgefallen sind. Verzweifelt versuchen sie mit untauglichen Mitteln der Gegenwart Dauer zu verleihen. Sie sind vom Wunsch getrieben, alles, was ihnen wertvoll erscheint, in eine feste Form zu gießen. Kinder haben diesen Wunsch nicht oder selten. Sie wandeln sich dauernd. Und wenn man sie betrachtet fühlt man sich an den Ausspruch des Konfuzius erinnert: „Wer immer glücklich sein möchte, muss sich oft verändern.“ In unserem Kontext wird Konfuzius zum Romantiker. Erwachsene hingegen haben sich fixiert auf das Vertraute und Nützliche. Das macht sie erfolgreich in der Beherrschung der Dinge. Mit dem Erfolg aber wurde die Unmittelbarkeit zerstört. Und so leben die meisten erwachsenen Menschen nicht mehr in der Gegenwart. Sie sind immer zu spät, und die wunderbare Heiterkeit, die die Seelen der Kinder eingenommen hat, fehlt ihnen. Im Roman „Imperium“ wird dies durch Böklins Gemälde „Die Toteninsel“ symbolisiert, das, hinter Glas im Mahagonirahmen, im Privatgelehrtenzimmer des Gouverneurs Hahl befindet (S. 211) 8. Zum Abschluss möchte ich noch eine Textstelle anführen, die zum Ausdruck bringt, dass es August Engelhardt am Ende gelingt, „ebenfalls zum Kind, zum Rex Solus“ zu werden. (S. 229) „Vegetabil und einfach, ohne sich an etwas erinnern zu können, ohne Voraussicht, lebt er allein im Präsens, ab und zu Besuch erhaltend, redet er wirr, die Menschen fahren wieder ab und lachen über ihn, schließlich wird er zur Attraktion für Südseereisende, man besucht ihn, wie man ein wildes Tier im Zoo besucht.“ (S. 229) 368 Moushira SUELEM Hier ist nicht der Ort, den Bezug zu Vladimir Nabokovs Roman- Fragment „Solus Rex“ herauszuarbeiten. Ich möchte nur soviel sagen, daß beide Helden, Nabokovs Sineussow und Krachts Engelhardt, am Ende völlig einsame, autarke Figuren sind, schwarze Könige, die in einer eigene, abgeschotteten Realität leben. Fazit Ich glaube, es ist mir gelungen zu zeigen, dass es sich bei Christian Krachts Roman „Imperium“ nicht um ein pseudo-romantisches Machwerk handelt, wie der Kritiker Georg Diez behauptet hat. Tatsächlich ist es ein Werk in dem viele romantische Topoi anzutreffen sind. Ich habe mich auf den Topos „Kindheit“ bzw. „Kinder“ konzentriert und gezeigt, wie Kinder im Roman wahrgenommen, dargestellt und verklärt wurden. Wie in der Romantik wurde das Leben der Kinder als eigene, höherwertige Daseinsweise behandelt. Diese göttliche Daseinsweise immerwährender Gegenwart ist auch für Erwachsene anziehend und erreichbar, freilich um den Preis, sich in der bürgerlichen Gesellschaft zu isolieren. Dass Kinder nicht wissen, warum sie etwas wollen, glauben viele, dass aber auch Erwachsene, gleich Kindern, auf diesem Erdboden herumtaumeln, ohne zu wissen, woher sie kommen, wohin sie gehen und was der morgige Tag für sie bringen wird und sich dabei ausschließlich von Kokosnüssen ernähren, hat Christian Kracht in seinem „Imperium“ vorgeführt. Man könnte seinen Roman neo-romantisch nennen. 369 ROMANTISCHE TOPOI IN CHRISTIAN KRACHTS ROMAN „IMPERIUM“ Literaturliste Christian Kracht: "Imperium", Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2012 Christian Kracht: "Faserland", Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 1995 Christian Kracht: "1979", Fischer Verlag, 2010 Christian Kracht: "Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten", Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln, 2008 Christian Kracht und Benjamin Stuckrad-Barre: "Wir tragen Größe 46", in: Die Zeit, Nr. 37/1999 Marc Buhls: "Das Paradies des August Engelhardt", Eichborn Verlag, Frankfurt am Main, 2011 Manfred Clemenz: "Literatur und demokratischer Diskurs“, in L.I.S.A. - Das wissenschaftliche Portal der Gerda Henkel Stiftung, 29. 01.2012 Georg Diez: "Die Methode Kracht", in: Der SPIEGEL 7/2012 (13. Februar 2012) Lothar Schröder: "Imperium" – der große Roman von Christian Kracht, in Rheinische Post vom 16.02.2012 Felicitas von Lovenberg: "Kein Skandal um Christian Kracht", FAZ, 15. Februar 2012). Martin Lüdke: Faustkultur.de vom 15.02.2012 Susanne Leiste: "Studien zur Darstellung des Kindes und der bildenden Kunst des ausgehenden Mittelalters und der frühen Neuzeit", Dissertation, Erlangen 1985 Hans-Heino Ewers: "Romantik. Vorgeschichte und Voraussetzungen...", Stuttgart 1990, S. 99-115 Vladimir Nabokov: „Solus Rex“, in: Erzählungen 2, Rowohlt Verlag 1989 Johann Wolfgang Goethe: "Die Leiden des jungen Werthers", Weygandsche Buchhandlung, Leipzig, 1774